Gesellschaft

Der letzte seiner Art

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Sicherheitsschlüssel Ost

In jedem Haushalt gibt es einige kleine Dinge, die einem irgendwie »zugelaufen« sind und die man gerne erhalten möchte, frisst die Erhaltung doch kein Brot und stehen diese Dinge doch symbolisch für vergangene Zeiten und manchmal auch für Teile unserer Geschichte. Bei mir gehört dieser für moderne Verhältnisse etwas skurril anmutende Sicherheitsschlüssel dazu, der ein – inzwischen nur zusätzlich genutztes – Schloss an unserer Wohnungstür schließt.

Mit Schlössern kenne ich mich ganz gut aus, ein Satz guter Schlüsselfeilen ziert meine Werkzeugkiste und ich übertreibe nicht, wenn ich sage, ich habe schon einige Rohlinge in Handarbeit zu wohlschießenden Schlüsseln gemacht. Das war jedoch früher™, so vor 27 oder 28 Jahren.

Umso überraschter war ich, als ich vor acht Jahren die Wohnung am Berliner Zionskirchplatz übernahm und neben einem anderen den hier abgebildeten Schlüssel für die Wohnungstür erhielt. Was war denn das? Ein Schlüssel. Simpel, platt, so ganz ohne Profil, nur seitlich ein paar Zacken. Im Prinzip aus 2 mm dickem Stahlblech hergestellt. Nicht wirklich sicher und aus jedem Stück Blech oder Bandstahl leicht nachzufeilen. Ostig eben, ein DDR-Relikt. Profillos wie er ist, kann er auch um 180 Grad verdreht reingesteckt werden und schließt dann natürlich nicht. Also wieder rausziehen, drehen, schließen, alles fein. Für Kenner ist ein winziger Punkt über dem Schlitz. Damit wird klar ist, wie rum der Schlüssel eingesteckt werden muss. Und da eine komplette Schließung nur einer halben Umdrehung entspricht, wechselt eben dieser Punkt zwischen unten und oben – je nachdem, ob aufgeschlossen oder abgeschlossen ist. Weder schön noch sicher, aber dieser Punkt hilft mir eben ungemein, schnell zu erkennen, ob abgeschlossen ist oder nicht, d.h. ob jemand da ist oder nicht, wenn ich nach Hause komme. Für die Sicherheit gibt’s ja noch ein anderes Schloss mit moderner Technik.

Der mittlere abgebildete Schlüssel ist einer der beiden, die ich 2005 bekam, Blechstück-schlicht und ohne jegliche Aufschrift. Einen dritten besorgte ich, als ich zufällig in einem Schlüssel-Geschäft an der Torstraße einen passenden Rohling hängen sah. Wohlbemerkt ein original →Silca-Rohling, made in Italy. Wer weiß, vielleicht nach der Wende für den Ost-Export hergestellt. Ich freute mich damals jedenfalls, diesen Schlüssel noch zu bekommen. Jetzt gab es drei davon, zwei für die Bewohner und einen Gastschlüssel.

Im Sommer gaben wir den dritten in vertrauliche Hände, des Blumengießens während der Urlaubszeit wegen. Dort sollte er auch bleiben. Blöd nur, den Gastschlüssel jetzt bei Bedarf abholen zu müssen. Vielleicht gibt es ja irgendwo im tiefen Osten Berlins noch ein Schlüsselgeschäft, wo man diesen Schlüssel noch bekommen kann? Denn das Geschäft in der Torstraße gibt es schon lange nicht mehr. Also auf die Merkliste, Ausschau danach halten.

Am letzten Freitag waren wir im Oderkaff unterwegs und holten uns die komplette →Frankfurt-Inspiration. Längst hatte ich den Schlüssel vergessen. Wir schlenderten durch eine gesichtslose Passage und fragten bei einem Schlüsseldienst nach dem Exoten-Schlüssel. Na klar, hatte er und betonte mit Frankfurt-Oder’scher Freundlichkeit, dass es der letzte sei und er aber 12,80 Euro koste. Vermutlich ein Ausländerpreis oder besser gesagt, der Preis für die Berliner, als die wir uns vorschnell geoutet hatten. Egal, gekauft. Kein Silca-Rohling, sondern wohl original Ost-Ware, ohne alles, ohne Aufschrift, gestanztes Metall. Pure. Darin schnell die Zacken meines Originals kopiert. Passt.

Auf dem Foto habe ich die Zacken abgedeckt, denn die letzten Details meines Schlüssels möchte ich Ihnen doch vorenthalten. Links der Silca-Markenschlüssel, in der Mitte das Original, rechts die Frankfurter Kopie. Das Schloss haben wir übrigens als zweite Sicherung auch aus dem Grund in Betrieb, weil es für heutige Verhältnisse so exotisch ist, dass man es mangels genauer Kenntnis nicht in wenigen Minuten picken kann und es dafür garantiert keine Anleitung im Internet gibt.

 

Gesellschaft · Reisen

Pilz & Wald

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Vor zwei Tagen war ich mit →Miz Kitty in Norddeutschland zu Gast. Genauer gesagt, im kleinen →Paradies in der Gegend um →Alt-Meteln. Nun, was macht man in dieser schönen Natur dort? Sich vom Staub der Metropole erholen, sich mental und visuell entschleunigen in Richtung grün, gelb, naturfarben. Entspannt durch Wald und Flur streunen und natürlich… Pilze sammeln im Wald.

Pilze sammeln kann ich zwar, nicht jedoch nur die wohlgenießbaren, kenne ich diese Gewächse nicht per Du. Ich glaube zwar, ich wäre ein ganz guter Pilzsammler, da ich berufsbedingt Details gut und schnell unterscheiden kann. Nur wurde in meiner Familie – schon aus Ängstlichkeitsgründen, man könnte den falschen Pilz erwischen, keine Pilze gesammelt. Und mit Ende vierzig mit Pilzbuch und Pilz-App anzufangen ist aufwendig. Ich halte mich also lieber weiter an das ebenso biologische Pils, hinten mit s, und bei meiner Pilzkenntnis sicher genauso gesund.

Also haben die beiden Damen Miz Kitty und La Primavera gesammelt und ich habe ein paar Fotos gemacht. Pilzfotos und Waldfotos. Die Ästhetik dieser Pilzgewächse ist bei genauem Hinsehen genauso skurril wie sie manchmal mit Affengeschwindigkeit aus dem Boden schießen und sich ausformen. Damit Fotos jetzt nicht in irgendeinem digitalen Festplattenordner verschwinden, habe ich sie zu einem separaten Fotostream zusammengestellt.

ZU DEN FOTOS


 

Gesellschaft

Gefunden

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CDU-Wähler

Vor der Bundestagswahl gab es in den Blogs, die ich regelmäßig lese und bei Twitter mehrfach politische Statements, von argumentativ nachvollziehbar bis hin zu ziemlich plumpen Überzeugungsversuchen. Mir war das etwas zu viel, und ich habe den ein oder anderen Beitrag bzw. Tweet schnell überlesen. Kein Problem, ich lese schnell und dachte, das legt sich nach der Wahl. Das Ergebnis ist eindeutig, knappe 42 Prozent haben die CDU gewählt. Heute ist Tag 8 nach der Wahl und in der letzten Woche ging es munter weiter in der Filterblase der Blogs. Man fragt sich, wer sie sind, die CDU-Wähler. →Hier und →hier und →dort sucht man oder ist schon fündig geworden. Man wundert sich ob des Wahl-Ergebnisses, passt es doch nicht in die Filterblase der Netz-Community.

Nun, wer hat die CDU gewählt? Ganz einfach: Bei fast 42 Prozent der Wählerstimmen und guten 70 Prozent Wahlbeteiligung hat statistisch ziemlich genau jeder vierte Wahlberechtigte CDU gewählt. Zählen Sie doch einfach Ihre Mitmenschen ab.

1—2—3—CDU-Wähler. Gut, so einfach ist die Suche nicht. Ich kann etwas weiterhelfen. Ich bin einer dieser CDU-Wähler, einen haben Sie also gefunden.

In den letzten 30 Jahren habe ich schon alle Parteien gewählt, die im Bundestag vertreten waren, von der Linken bis zur FDP. Dieses Mal habe ich mich für die große bürgerliche Regierungspartei entschieden, für die Fortsetzung der Regierung von Angela Merkel also.

Dass die politische Linie sich soo stark von der großen Konkurrenzpartei SPD unterscheidet, glaube ich indes nicht, denn das Regieren dieser Republik mit ihren internationalen Verflechtungen ist ähnlich dem Steuern eines Tankers, von dessen Kommandobrücke man weder die Bugspitze noch das Heck richtig erkennen kann. Entsprechend langsam und manchmal wenig wahrnehmbar ist das Regierungshandeln, unabhängig davon welche Partei gerade regiert. Sicher gibt es einen Spielraum, und die SPD und CDU bespielen ihn unterschiedlich, oft jedoch kaum mit einem Unterschied im Ergebnis für den einzelnen Bürger. Ist man direkt von einer neuen Gesetzgebung betroffen, dann jedoch im Detail mit großer persönlicher Relevanz.

Weder das Ehegatten-Splitting noch noch meine private Krankenversicherung und noch einige andere zur Disposition stehende Dinge möchte ich aufgeben. Warum sollte ich das auch befürworten, bietet beides in meiner momentanen Lebenssituation doch ein paar Vorteile. Das heißt ja nicht, dass ich nicht möchte, dass z.B. alle eine gute Gesundheitsversorgung haben, und dass es allen Menschen in diesem Land gut geht. Für genau die Themen, die für mich persönlich relevant sind, erscheint mir die CDU im Moment der verlässlichere Garant zu sein.

Lange Zeit erkannte ich die SPD als eine Partei an, die sich für die sozial Schwächeren einsetzt. Im Studium habe ich sie gewählt, wie fast jeder in dieser Lebensphase links gewählt hat, dem allgemeinen Anspruch nach Weltverbesserung durch Sozialnivellierung folgend, den man mit Anfang zwanzig meist hat.

Mindestens seit Hartz-4 hat diese Partei jedoch bei mir verloren. Das ging nicht anders, werden Sie sagen, ohne Hartz-4 wären Transferleistungen nicht mehr dauerhaft finanzierbar gewesen. Das stimmt, nur wenn die Ausführung so ist, wie sie jetzt ist, dann frage ich mich ernsthaft, ob die CDU das nicht besser, verträglicher und fördernder für die Leistungsorientierten der Transferleistungsempfänger hinbekommen hätte. Googlen Sie mal, welche Steine die Arbeitsagentur guten, ehrgeizigen, leistungsbereiten, aber finanziell armen Oberstufenschülern in den Weg legt.

Warum die CDU für mich im Moment der verlässlichere Garant ist? Zwei Dinge beeinflussen mich bei meiner Wahl. Erstens möchte ich meinen persönlichen Status perspektivisch verbessern oder zumindest sichern und zweitens möchte ich eine Regierungspolitik, die so weit wie möglich zum Ergebnis hat, dass es allen gutgeht. Ok, das wollen alle Parteien, und jede meint, sie kann es am besten. Die SPD hat das für ihre ureigenste Klientel der sozial Schwächeren nicht geschafft. Hartz-4, Arbeitsagentur und Löhne um die 3,50 Euro – gegen die kein wirksames Instrument installiert wurde – sind Stichworte. Die CDU hat es immerhin geschafft, dass es weiten Teilen der bürgerlichen Mitte im europäischen Vergleich doch relativ gut geht. Offensichtlich haben das viele Wähler honoriert und wünschen sich das mit Verlässlichkeit auch weiterhin so. Zudem hat die Partei mit Angela Merkel eine integrative Politikerin, der die SPD niemand Adäquates entgegensetzen kann. Kanzlerkandidaten, die verlauten lassen, als Bundeskanzler wäre das Gehalt zu niedrig, wirken wenig verlässlich – vor allem, wenn sie einer Partei angehören, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, auch die weniger gut Betuchten zu vertreten.

Sicher gibt es Themen wie Netzpolitik, Datenspeicherung und Datenschutz, sowie der Umgang mit der NSA-Schnüffelei, in denen beide großen Parteien bisher nur dilettieren. Im Parteienvergleich haben hier vielleicht nur die Piraten eine Kompetenz. Ernsthafte Unterschiede kann ich in diesem Themenfeld jedenfalls nicht zwischen der CDU und der SPD erkennen – zumindest nicht Unterschiede, die für mich wahlentscheidend wären. Die Piraten haben sich nicht als regierungsfähig erwiesen und Netzpolitik mag in Filterblasen wichtig sein, ist sonst jedoch nur eine Scheibe von vielen.

So, einen CDU-Wähler haben Sie nun gefunden, einen von knapp 42 Prozent derjenigen, die gewählt haben. Ich kenne noch einige andere.

 

Berlin · Gesellschaft

Berlin-Marathon

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Der Berlin Marathon, ein jährliches Ereignis am letzten Septemberwochenende. Heute findet er statt, auf Twitter habe ich vorhin schon einigen Läufern und den Supportteams einen guten Lauf gewünscht – den Schwammhaltern, Fläschchengebern und persönlichen Motivatoren ebenso wie den Läufern und Läuferinnen selbst.

Seit 2003, also seit 10 Jahren ist es der erste Berlin-Marathon, an dem ich so gar nicht beteiligt bin, weder als Zuschauer oder als Läufer. Acht mal bin ich die Strecke gelaufen. 337,56 km durch abgesperrte Berliner Straßen, 2003 das erste mal und 2010 das letzte Mal. 10 Mal hätten es eigentlich werden sollen – und werden es hoffentlich noch. Ich würde heute mit einer grünen Nummer laufen, als einer dieser Jubilee-Club Veteranen, die den Hauptstadtlauf schon 10 Mal absolviert haben. Statt dessen kam vieles anders. Nein, nichts schlimmes und nichts gesundheitliches, sondern Glück, Heirat, Ehe, viel Heimsport (sie wissen schon…), und gute häusliche Küche. Meine Metamorphose vom studentischen Jüngling mit Mitte vierzig zum mittelalterlichen, dicklichen, glücklichen Ehemann, mit der besten Frau der Welt, Biokiste, Autourlaub, Schlösserhopping und nach vielen Jahren mit Pappkästen und Kellerregalen endlich in einer eingerichteten Wohnung. Die Medaillen auf dem Bild sind also »echt«, d.h. ich habe sie wirklich bekommen, und es gibt noch einige mehr.

Heute findet der Lauf ohne mich statt. Wir fahren wir nach Norddeutschland in ein kleines Paradies und lassen Marathon Marathon sein, denn selbst die Freundin, die wir im letzten und vorletzten Jahr mit Päckchen Taschentüchern supportet haben, läuft dieses Jahr nicht mit.

Nun, ein wenig Wehmut ist schon dabei, heute Morgen nicht in der Straße des 17. juni dabei zu sein, wo doch heute ein Bilderbuchwetter ist – wobei, für die Läufer könnte es gegen Mittag schon zu warm sein. Gut erinnere ich mich noch an meinen letzten Berlin Marathon 2010 (oder war es 2009), als es im Start schon Bindfäden regnete und wir unter einer Bühne zusammengewängt Regenschutz suchten und auf den startschuss warteten. Nach knappen 20 Kilometern war meine Funktionsjacke so durchnässt, dass ich sie im Yorckschlösschen abgab, die restliche Strecke im Shirt weiterlief und sie spätabends wieder abholte. Alle Marathon-Debütanten werden dieses Erlebnis nicht haben, sondern einen schönen Tag und ziemlich sicher auch ein schönes Erlebnis.

Gedanklich lasse ich die Strecke gerade revue passieren und bin natürlich gespannt, wie die Läufer sie heute erlebt haben. Deswegen: Bitte gerne einen Kommentar schreiben.

Der Start des Hauptstadtlaufes findet immer auf der Straße des 17. Juni statt, in einer riesigen Menschenkette von ca. 40.000 Läufern. Vor dem Start geht es natürlich den Kleiderbeutel abgeben und man kann noch etwas die Atmosphäre vor dem Reichstag genießen. Sofern man mit einer Gruppe läuft gibt es vielleicht vorher noch ein Erinnerungsfoto auf der Treppe des Reichstags. Ich fand diese Atmosphäre immer sehr schön. Mindestens bei diesen Zusammenkünften habe ich Läufer immer sehr hilfsbereit und nett erlebt und das Einzelkämpfertum, das man ihnen nachsagt, habe ich nie feststellen können. Eines ist übrigens auf den Platz vor dem Reichstag am Marathon-Tag gebilligt. Um den Damen lange Dixi-Wartezeiten zu ersparen, wässern hier schon mal einige Herren die Hecke. Bitte meine Herren wann dürfen Sie schon mal vor dem Reichstagsgebäude an die Hecke pinkeln, ohne dass die Staatsmacht gleich hinter Ihnen steht und man Ihnen das sonstwie auslegt? Am Marathon-Tag dürfen Sie es. Ich habe es schon einige Male getan.

Hat man den auf der Startnummer aufgedruckten Startblock erreicht, geht es im Pulk Richtung Siegessäule – Rechtsläufer wie ich laufen rechts der Gold-Else, die anderen links. Vorbei am Flohmarkt Richtung Ernst-Reuter-Platz, West-Berliner-Publikum eng im Spalier aufgestellt. Der Start ist vorbei, man hat die allererste Prognose für den Lauf. Alles easy, oder erschwerte Bedingungen am Start. Zu viel Pulk, falscher Startblock, zu viele rempelige, von der Midlife-Crisis Gebeutelte, die unbedingt die 3:30- oder 4-Stunden-Marke knacken müssen? Oder gleich Läufer/innen mit gleichem Tempo gefunden, mit denen man die ersten Kilometer bei kurzweiligem Gespräch absolviert?

Auf jeden Fall langsam und stetig das eigene Wohlfühltempo erreichen und in diesen ersten Kilometern zum Erreichen der mittleren Flughöhe kein unnötiges Kerosin verbrennen. Im Pulk geht es weiter Richtung Moabit, über die Gotzkowskybrücke. Eine Freundin wohnt hier und ich bin dort immer links außen gelaufen. Schauen, ob man sich sieht, auch wenn man nicht direkt verabredet ist. Langsam entzerrt sich der Pulk etwas. Das Moabiter Publikum ist nicht das schlechteste. Bodenständig, ohne irgendwelche Hard-Rock-Sequenzen aus übersteuerten Lautsprechern, die mich aus dem Lauftakt bringen.

Nach Zeitmessung und Verpflegungsstation begrüßen uns die unfreiwilligen Bewohner dieses Stadtteils aus den Zellenfenstern der JVA und weiter gehts im Läuferstream zwischen Bundeskanzleramt und Hauptbahnhof. Zweimal kurz bergauf, um dann runter in die Reinhardstraße zu laufen. Da es leicht runter geht, sieht man den Läuferstream von oben. Tolles Bild, und selbst dort mittendrin, in diesem Strom.

Vorbei am Friedrichstadtpalast über die Torstraße kommt jetzt der Kilometer 10. Das Laufen im Stream ist nicht mehr störend eng, wenngleich es sich an den Verpflegungspunkten natürlich immer drängelt. Ein Viertel ist jetzt geschafft, und jetzt gibt es eine sichere Prognose, wie denn die noch verbleibenden 32 km sein werden.

Die Torstraße ist publikumsmäßig nicht soo frequentiert, so dass man sich hier gut mit seinem persönlichen Supportern verabreden kann. »Ich laufe links, Torstraße, Ecke Bergstraße, Richtung Rosenthaler Platz« sollte also gut machbar sein.

Weiter geht es via Mollstraße, Alexanderplatz, Strausberger Platz an Mainstream-Publikum, am Alex natürlich besonders dicht, Richtung Kreuzberg. Zwischenzeitlich immer mal wieder weniger Publikum, gut zum Verabreden, um die persönlichen Supporter nicht zu verfehlen.

Spätestens am Kottbusser Tor stellt sich Multikulti ein, Musikband inklusive. Meist nichts für mich, nicht mein Geschmack. Zu laut, es bringt mich aus dem Lauftakt. Ok, ich bin eh nicht so ein Kreuzberg-Neukölln-Fan. Weiter im Stream Richtung Hermannplatz mit Verpflegungsstand und Remmidemmi. Via Südstern nach Kreuzberg61, mit Zuschauern und Supportern, die bei gutem Wetter auf dem Bürgersteig frühstücken. Dann vorbei am Yorckschlösschen, wo ich wie oben beschrieben vor drei Jahren meine zum Schwamm nassgeregnete Jacke abgab, Richtung Schöneberg.

In der Grunewaldstraße ist die Halbmarathon-Marke erreicht. Wie siehts aus mit den Energiereserven und mit der Zeit? Jetzt »nur« noch einmal soweit wie bis hier. Alles gut, bzw. im grünen Bereich? Dann weiter am Rathaus Schöneberg vorbei – Sie wissen schon, vor 31 Jahren sagte Präsident Kennedy in der Reststadt hier seinen Satz auf dem Balkon. In der Unterführung Innbrucker Platz wie jedes Jahr die viel zu laute Samba-Band, in der ein Kollege die ersten Jahre mit trommelte. Nicht meins. Links dran vorbei und schnell weg aus der Lärmkulisse. Jetzt durch Friedenau mit eher bürgerlichem Publikum, schön und erholsam. Und nach 25 oder 26 Kilometern immer schön auf Flughöhe bleiben, d.h. die Laufgeschwindigkeit halten und sich nicht verausgaben. Am Breitenbachplatz dann wieder eng gestelltes Westberliner Publikum und weiter ganz entspannt durch die Lenzeallee. Idyllisch, Kinderfest-Publikum, private Verpflegungsstände, vor Jahren auch mal ein SPD-Stand dazwischen, der die Läufer supportete. Den wird es heute vermutlich nicht geben, die Wahl war dieses Jahr schon. Das Stück Lenzeallee habe ich immer sehr genossen. Kurzweil, eben so, wie es mir gefällt. Dann direkt zum Halligalli am Wilden Eber. Publikums-Pulk, Fernseh-Übertragung, Bühne und Band wie beim Großevent – es ist Großevent, der Berlin-Marathon.

Wilder Eber, das bedeutet auch Zwei-Drittel-Marke, also 28 Kilometer. Jetzt noch ein Drittel, also Tempo und Kondition halten und ein paar Kilometer weiter entweder durchstarten oder langsam ins Ziel.

Das letzte Drittel beginnt mit unspektakulären Westberliner Hauptstraßen, einem schon deutlich entzerrten Läuferstream und für mich nicht so vielen Sightsseeing-Impulsen. Hohenzollerndammm, Fehrbelliner Platz, schnell durch, aber nicht zu schnell. Erreichtes halten, ist die Maxime. Hier sieht man schon immer wieder einige Läufer nicht mehr laufen, sondern gehen, von ihren Unterstützern gepampert, oder einfach nur schlecht aussehend. Nun, wenn sie einfach gleichmäßig weitergehen, schaffen sie es ja auch so ins Ziel.

Über die Konstanzer Straße dann den Kurfürstendamm runter, an im Spalier stehenden Publikumsmassen vorbei. Am Anfang der Konstanzer Straße eine Bühne mit Kamera und Sprecher. Mit Glück wird man persönlich genannt. Also immer schön lächeln, auch wenn bei 32,5 Kilometern der Akku langsam leer sein sollte. »Konstanzer, Ecke Zähringer Straße, Laufrichtung rechts« war immer mein persönlicher Support-Treffpunkt. Es sind von hier noch 10 Kilometer, so wie zwei große Runden um den Tiergarten, also nicht besonders. Mein persönlicher Durchhaltespruch. Durchaus weiterzuempfehlen, der Treffpunkt hier, findet man sich doch ziemlich schnell.

Ku-Damm runter, Wittenbergplatz, Potsdamer Platz, Publikum galore. Schweiß auf den Straßen, Mittagssonne. Und noch immer im Läuferstream, begleitet von einigen an der Seite gehenden und Menschen, die am Tag danach hoffentlich wieder besser aussehen. Tolles Publikum, man motiviert sich gegenseitig. Potsdamer Platz wieder Spalier-Publikum, aber sehr gut für die Motivation.

Jetzt heißt es nicht mehr Tempo halten, sondern sicher ankommen. Also gut motiviert den Akku leeren und nicht zu schnell durch die historische Berliner Mitte laufend Sightseeing über abgesperrte Straßen. Auch wenn ich hier wohne, und diese Straßen jeden Tag fußläufig erreichen kann, motiviert mich diese Berliner historische Mitte, Gendarmenmarkt, etc. immer wieder. Dazu das überragende Gefühl, körperlich und mental etwas geschafft zu haben, mindestens beim Abbiegen nach Unter den Linden stellt es sich ein. Nun nur noch auf das Brandenburger Tor zu. Das Tor in Sichtweite und immer näher kommend. Mindestens direkt vorm Tor heißt es gut aussehen und lächeln. Hier verjüngt sich die Strecke, das Publikum hinter einer Absperrung. Zügig durchs Tor, das Ziel im Blick. Jetzt entweder ganz schneller Endspurt, vorbei noch an anderen Läufern. Oder gemächlich der Zeitmess-Matte im Ziel entgegen. Moderat stoppen, nicht zu abrupt. Geschafft. Die Medaille umgehängt bekommen. Langsam im Strom Tee, Äpfel, Bananen, Verpflegungstüte und Kleiderbeutel abholen – und sich den Rest des Tages und die nächste feiern lassen.

Gesellschaft

Gedanken zur Wahl

stimmzettel_bundestagswahl_erststimme_zweitstimme

Prognosen zur Wahl und Wahlempfehlungen gibt es im Moment einige, von distanziert bis ideologisch. Mancher wünscht sich gar, die Wahl wäre schon vorbei, um nicht die Texte von Parteisoldaten lesen zu müssen.

Mehr oder weniger ernsthafte Screenshots des →Wahl-O-Mat konnten wir bereits auf Twitter und in diversen Blogs lesen. Sie wissen schon, dieses Online-Tool, mit dem man sich nicht langatmig durch bullshit-befloskelte Parteiprogramme oder Wahlprogramme lesen muss, sondern ganz einfach eine Reihe von Fragen mit ja oder nein beantwortet (die von den Parteien zuvor auch beantwortet wurden) und als Ergebnis ein Ranking von Parteien erhält, mit deren Zielen die eigenen Ansichten möglichst gut übereinstimmen. Vorher kann man noch eine Gewichtung festlegen, welche Fragen man als besonders relevant erachtet und welche Parteien berücksichtigt werden sollen.

Nun, ich weiß, was ich wähle und bin mir des infinitesimal-geringen Einflusses meiner Stimme in einer Demokratie, die eben wenig basisdemokratische Elemente enthält, bewusst. So wird die Bundestagswahl eher zum Event als zu einer wahrnehmbaren Mitbestimmung. Durch den Wahl-O-Mat habe ich mich trotzdem geklickt – um mitreden zu können. Wie selbstverständlich habe ich natürlich nur die Parteien in die Auswertung einbezogen, die nach Erfahrungswert und Umfragen eine realistische Chance haben, in den Bundestag einzuziehen. Und genauso selbstverständlich haben Menschen, mit denen ich gesprochen habe, alle Parteien in die Auswertung einbezogen. Dann mit spektakuläreren Ergebnissen. DKP oder Grüne hat der Wahl-O-Mat für die erste Person als passend herausgefunden, die Linke oder die NPD als zur zweiten Person passend und die Rentnerpartei fand das Online-Tool als ideal für die dritte heraus, mit Anfang 20 eine noch recht junge Dame. Mein Ergebnis ist dagegen eine der Big-Five-Parteien, denn andere hatte ich ja erst gar nicht in die Auswertung einbezogen. Chancenlos, warum sich damit auseinandersetzen?

Strategisch oder idealistisch?

Es gibt also zwei Herangehensweisen an die Auswertung per Wahl-O-Mat und an das Ergebnis. Mit Berücksichtigung von Wahrscheinlichkeiten und Realitäten und eben ohne. Genauso gibt es diese Herangehensweisen, das Kreuzchen zu setzen. Als Realist, der ein »kleineres Übel« wählt, das ihm lieber ist als die Wahl einer chancenlosen Partei, die den eigenen Vorstellungen deutlich näher ist. Oder als Idealist, der genau dort das Kreuzchen setzt. Eine verlorene Stimme, wenn die Wunschpartei dann – wie vorauszusehen – nicht in den Bundestag kommt?

Nein, nicht ganz, zumindest nicht bei der Zweitstimme. Dieser infinitesimale millionstel Prozentpunkt fehlt einer der anderen Parteien, immerhin. Hätte man diese Stimme nicht abgegeben, wäre auch die prozentuale Verteilung aller Parteien eine andere, wenn auch nur in der hintersten Nachkommastelle.

Und bei der Erststimme bleibt jede Stimme, die nicht für den Wahlkreissieger ist, ohne Wirkung, egal ob für den Kandidaten der zweiten großen Partei oder einer kleinen abgegeben.

Nur beim Kopf-an-Kopf-Rennen zwei gleicher Kandidaten ist strategisches Wählen bei der Erststimme sinnvoll. Dann entscheiden oft wenige hundert Stimmen, und theoretisch könnte natürlich eine eizige ausschlaggebend sein. Dafür, dass von zwei suboptimalen Direktkandidaten der optimalere der Wahlkreissieger wird. Ob so ein Kopf-an-Kopf-Rennen wahrscheinlich ist, darüber geben alte Ergebnisse und Umfragen eine sehr gute Einschätzung.

So man nicht absoluter Sympathisant einer der beiden großen Parteien ist, bewährt es sich immer, kleine Parteien zu wählen. Erstens, um sie mit vielen anderen Wählern zusammen mit der eigenen, infinitesimalen Stimme über die Fünf-Prozent-Hürde zu heben. Zweitens, um wenigstens die prozentualen Anteile der anderen Parteien zu beeinflussen und drittens, – und das ist ziemlich subjektiv – um bestehende, übergroße und oft selbstverliebt-machtverwöhnte Parteiapparate nicht unnötig zu stützen.

Gesellschaft

»Sie müssen noch mal etwas studieren«

Ein Service-Blogpost für alle, die überlegen, ein Studium zu beginnen

Seit Jahren unterrichte ich an einer Fachschule junge Menschen im Rahmen ihrer Ausbildung zum Mediengestalter und vermittle ihnen Einzelheiten der Produktion von Medien. Gerade haben wieder einige davon, wie nach jedem Halbjahr, ihre IHK-Abschlussprüfung bestanden. Zu dem ein oder anderen sage ich auch in diesem Sommer wieder: »Sie müssen noch mal etwas studieren«. Ich sage dieses immer, wenn ich denke, jemand hat das Zeug zu Höherem und lässt sich gerade in seiner persönlichen Situation zu sehr von Prioritäten leiten, die gerade opportun sind – der feste Arbeitsplatz im Ausbildungsbetrieb, an dem man weiter vor sich hin arbeiten kann, die vermeintliche Ortsgebundenheit, des Partners und der Familie wegen, etc.

BERUFSAUSBILDUNG VON EDEL BIS BLAUMANN

Duale Berufsausbildung heißt diese Art der Ausbildung, die auch die Mediengestalter absolvieren. Sie findet hauptsächlich in einem Betrieb statt und außerdem in einer beruflichen Schule. Früher sagte man Lehre dazu und der Auszubildende, sprich Azubi, hieß Lehrling.

Derlei Berufsausbildungen gibt es viele im gewerblichen und kaufmännischen Bereich, vom Bankkaufmann bis zum Zerspanungsmechaniker, letzterer allgemein als Dreher oder Fräser bekannt. In Deutschland sind diese (Lehr-)Berufe in einem Verzeichnis der Ausbildungsberufe aufgelistet. Formal ist nicht einmal ein Hauptschul-Abschluss erforderlich, um eine Berufsausbildung zu beginnen. Praktisch gibt es dagegen wohl keinen Azubi zum Bankkaufmann ohne Abitur, und auch bei den Mediengestalter-Azubis bilden die Abiturienten die größte Gruppe.

Schaut man sich die Liste der Ausbildungsberufe einmal näher an, so lässt sich schnell eine Einteilung finden in Edel-Ausbildungsberufe – Berufe für das Angestellten-Mittelfeld, heute wahrscheinlich nicht mehr überall mit white collar, aber doch ganz gut angesehen – und gewerbliche Blaumann-Berufe wie den bereits genannten Zerspanungsmechaniker oder z.B. den Klempner. Diese Blaumann-Berufe haben allgemein keinen hohen sozialen Status und werden oft in Industrie-Betrieben oder im Handwerk ausgebildet. Hier haben auch 16-jährige mit gutem Hauptschul- oder Realschul-Abschluss eine Chance, als Auszubildende unterzukommen.

In den Edel-Ausbildungsberufen sieht das anders aus. Dort verirrt sich keiner mit Hauptschul-Abschluss und nur ganzen selten 16- oder 17-jährige mit Realschulabschluss. Einerseits reichen die Kenntnisse, die man für den Erwerb des heutigen Realschul-Abschluss haben muss, wohl nicht, um in der Ausbildung gut dazustehen, andererseits ist man mit 16 oder 17 Jahren wohl noch zu jung für bestimmte Berufe, wenn es über ein Schülerpraktikum hinaus gehen soll. So sind die Azubis dieser Edel-Ausbildungsberufe – und dazu gehören neben den schon genannten Bankkaufleuten auch Mediengestalter – allesamt älter und haben höhere Vorbildung. Einschlägige Vorpraktika, Fachabitur oder allgemeines Abitur sind quasi notwendige Voraussetzung für einen Ausbildungsplatz. Eine Vorbildung, mit der man locker auch studieren könnte. Nun, die Azubis haben sich gegen ein Studium entschieden. Oder sie beginnen als Studienabbrecher, die die Erfahrung Studium schon hinter sich haben.

AUSBILDUNGSBERUF VERSUS STUDIUM

Die beruflichen Tätigkeiten in diesen Edel-Ausbildungsberufen sind zuweilen ziemlich ähnlich oder gleich mit denen von Akademikern aus dem gleichen Berufsfeld. So mag ein Mediengestalter täglich das gleiche tun wie ein diplomierter Grafik-Designer. Oder das Tagesgeschäft eines ausgebildeten Fotografen mag sehr ähnlich sein wie das eines diplomierten Foto-Designers. Und die Industrie-Kauffrau hat möglicherweise ein größeres und verantwortungsvolleres Aufgabenspektrum als der diplomierte Betriebswirt.

So stellt sich den Abiturienten – und auch deren Eltern – immer wieder die Frage, wie gut und gleichwertig es den nun mit diesen Alternativen Ausbildung in einem Edel-Ausbildungsberuf und Studium aussieht. Gleichberechtigte Alternativen sind es sicherlich. Dass sie gut und vor allem gleichwertig sind, daran habe ich jedoch begründete Zweifel.

ABITURIENTEN NACH DER BERUFSAUSBILDUNG

Immer wieder treffe ich hier in Berlin die inzwischen gestandenen Medien-Fachleute wieder, die einst während ihrer Ausbildung in einem meiner Kurse lernten.

Einige davon sind relativ erfolgreich geworden, waren damals jedoch schon regelrechte Macher-Typen und sind seit Abschluss ihrer Ausbildung selbständig. Andere sind gut verdienende Angestellte mit bürgerlicher Existenz, Familie und Immobilienkredit geworden, monetär gleichauf mit den Akademikern im gleichen Unternehmen, wenn nicht gar mehr verdienend – aufgrund der längeren Erfahrung im konkreten Job. Wieder andere haben sich persönlich wie beruflich nicht gefunden und dümpeln im erlernten Beruf über Jahre vor sich hin, von Job zu Hartz4 zu nächstem Job, etc. Künstlerschicksal, selbstgemacht. Der Rest hat nach der Berufsausbildung noch studiert. Entweder, weil das schon vorher geplant war und man die zumeist verkürzte Ausbildung als Durchlauferhitzung für ein Studium im gleichen Bereich genutzt hat. Oder, weil jemand, der vor der Berufsausbildung »was mit Medien machen« wollte, danach »nichts mehr mit Medien zu tun haben« wollte und deshalb ein Studium in einem völlig anderen Bereich begonnen hat. Alle versichern jedoch, in der Ausbildung hätten sie viele handwerkliche Fertigkeiten gelernt, die Kommilitonen sich oft mühsam erst im Studium aneignen müssten, bzw. diese einfach nicht hätten.

HORIZONTERWEITERUNG STUDIUM

Etwas studieren bedeutet ja, das eigene Wissen um etwas zu erweitern, von dem oft gar nicht klar ist, wozu man diese Kenntnisse jemals brauchen wird. Bildung in einer Fachdisziplin eben, im Gegensatz zur Ausbildung. Warum beschäftigen wir uns mit solchen Dingen? Klar, aus Gründen der Neugier, der Horizont-Erweiterung, des Mitdiskutieren-Könnens. Unmittelbare oder auch nur absehbare monetäre Verwertbatkeit? Fehlanzeige, und für einen selbst auch nicht erforderlich. Dafür die Kreation einer Menge ideeller Werte. Durchaus nutzbar, im Jetzt für einen selbst, in beruflichen Zusammenhängen mit etwas Glück später, meist nur implizit, manchmal Jahrzehnte später, manchmal auch nie.

Horizont-Erweiterung nennen wir landläufig diese Kreation und Erweiterung ideeller Werte einer Person. Das braucht Zeit, und zwar ziemlich viel. Dafür studiert jemand. Diese Zeit muss man sich nehmen und man muss sie Studierenden geben. Sofern es denn irgendwie geht, sollten wir uns diese Zeit gönnen und uns diese Möglichkeiten nicht entgehen lassen – und mit dem Abitur in der Tasche geht das auf jeden Fall.

AKADEMIKER ÜBERHOLEN

Gerade diese Edel-Ausbildungsberufe bedingen ja, dass jemand nach der Berufsausbildung mit Anfang oder Mitte zwanzig schon ziemlich verantwortungsvolle Aufgaben hat, oft mit höherem innerbetrieblichen Status als gleichaltrige studentische Praktikanten, die er vielleicht sogar selbst als Vorgesetzter anleiten muss. Wenn die persönliche Situation jetzt noch ein traditionelles Lebensmodell befördert – Partner, Kinder, Familie, früh aufgenommener Immobilienkredit –, dann arbeitet mancher weiter, und weiter, und weiter. Und klebt an diesem Job. Währenddessen können sich die studentischen Praktikanten schön in diesem und jenem Projekt erproben, auch mal im Schutzraum Studium auf die Nase fallen und angesagten gesellschaftlichen Strömungen ohne konkretes Ziel anhängen. Erfahrungen sammeln, Horizont-Erweiterung galore eben.

Und mit dreißig und mit vierzig? Wie sieht es dann aus bei denjenigen, die in ihrem Ausbildungsberuf immer noch arbeiten und immer noch vergleichsweise gutes Geld verdienen. Da wird es dann schon mal deutlich, dass die inzwischen im Beruf stehenden Akademiker – nach brotloser Studien-, Erprobungs-, Horizont-Erweiterungs-Phase – nachgezogen, überholt haben. Inzwischen monetär gleichauf oder oft besser gestellt, gehen sie oft an Dinge anders heran, haben andere und manchmal mehr Visionen. Oft sind sie vernetzter und ganzheitlicher aufgestellt. Da werden plötzlich diese Puzzlestücke aus dem Studium zusammengebracht, von denen zuerst keiner wusste, welchen Sinn sie haben, und fließen implizit in Berufsalltag und berufliches Handeln ein.

Immer wieder stelle ich bei den Menschen im mittleren, also meinem, Lebensalter fest, die eben nicht diese Erprobungs-, Studien-, Horizont-Erweiterungs-Phase erlebt haben, dass sie Dinge anders wahrnehmen, anders bewerten, manchmal eine andere Herangehensweise haben. Mehr quadratisch, praktisch, gut. Nur eben manchmal auch erschreckend praktisch, mit weniger Reflexion, weniger Kenntnis allgemeiner, gesellschaftlicher, vernetzter Zusammenhänge. Manchmal auch mit weniger Flexibilität, Kreativität, Inspiration. Sehr gute Worker eben, die ihre konkreten Jobs perfekt und zuverlässig erledigen, dafür gutes Geld verdienen und sich so einiges leisten können. Nur eben manchmal nicht so inspiriert und inspirierend, wie sie es vielleicht hätten werden können, mit mehr Zeit für die Horizont-Erweiterung. Der Tellerrand könnte eben etwas näher sein. Schade.

CUT – ANFANGEN – BESSER SPÄT ALS NIE

Mit Mitte bzw. Ende zwanzig oder Anfang dreißig ist es längst nicht zu spät, ein Studium zu beginnen.

Also, was hindert Euch, wenn Ihr mit Abitur schon ein paar Jahre im Edel-Ausbildungsberuf vor euch hinarbeitet, den Cut zu machen? Nächste Lebensphase, mit weniger Geld, dafür mehr Erkenntnisgewinn, mehr für Euch selbst. Vielleicht auch mehr Spaß?

Was hindert Euch, wenn Ihr jetzt gerade eine Berufsausbildung in einem dieser Edel-Ausbildungsberufe abschließt? Ihr habt sowieso gerade einen Cut, und wahrscheinlich auch ein Abitur. Wollt Ihr die nächsten Jahre so weiterarbeiten? Quadratisch, praktisch, kompetent, an eurem Arbeitsplatz vielleicht angesehen. Neugier habt Ihr dort auch, und Neues werdet Ihr auch kennenlernen. Genau das, was Ihr für euren Job braucht, zu viel mehr werdet Ihr vor lauter Arbeit nicht kommen. Wie soll das dann bei Euch aussehen mit vierzig?

Kurz: »IHR MÜSST NOCH ETWAS STUDIEREN.«

Die Planlosigkeit nach dem Abitur hatten wir alle. Erst einmal eine Ausbildung in einem guten Beruf zu absolvieren ist sicher nicht falsch, lernt man dort doch viele praktische Fertigkeiten, die man oft auch im Privatleben gebrauchen kann und die einem die Tür zu manch gutem Nebenjob öffnen. Als Durchlauferhitzung für ein Studium hat eine Berufsausbildung sicher noch keinem geschadet. Nur, das sollte dann auch so durchgezogen werden, mit einer Ausbildungsverkürzung, gleich zu Beginn festgelegt (Anm.: mit der Vorbildung Abitur können bis zu 12 Monate verkürzt werden).
Ansonsten gilt: Mit Abitur studiert man und bleibt nicht im Lehrberuf kleben.

AUSNAHMEN BRECHEN JEDE REGEL

Viele Menschen habe ich kennengelernt, die ganz sicher die Intelligenz haben, jedoch nicht die Möglichkeit zum Studium hatten und trotzdem ein sehr hohes Maß an Differenziertheit und Inspiriertheit haben. So wie ich es manchem Akademiker wünschen würde. In der 50plus-Generation war es in weiten Teilen üblich, nur die Realschule zu besuchen, wenn man eben nicht einen bildungshöheren familiären Hintergrund hatte. 2013 ist jedoch nun weder Nachkriegs-Deutschland, noch sind es die 70er oder 80er. Heute gibt es kaum jemand, der trotz Intelligenz und Abitur aus finanziell-familiären Gründen nur eine Ausbildung machen darf und nicht studieren darf. Sollte es so sein, prüfen Sie, ob es nicht ein vorgeschobener Grund ist.

Fühlen Sie sich also bitte als Nicht-Akademiker nicht angegriffen. Es wird gute Gründe gegeben haben, warum Sie nicht zum Studieren gekommen sind, und die nicht-akademischen Berufe sind wirtschafts- und gesellschaftstragend. Trotzdem sollten wir zukünftige Generationen getreu dem Motto »Die Kinder sollen es mal besser haben.« so gut wie möglich rüsten. Und dazu bietet ein Studium einfach mehr als die Berufsausbildung in einem Lehrberuf, auch wenn es ein Edel-Ausbildungsberuf ist.

AN DIE UNI VERSCHOBEN

Genau, ich habe den Unis jetzt vielleicht einige Probleme zugeschoben, wenn Sie Ihren Abiturienten-Nachwuchs zum Studium bewegen und ich die Abiturienten motiviere, ein Studium aufzunehmen. Dort gibt es dann möglicherweise ein paar Studierende mehr, die – wie Hochschullehrer immer so schön sagen – »nicht studierfähig« sind. Mit Abitur in der Tasche und wenig dahinter. Ja, das ist vielleicht so. Aber, Versuch macht klug, das erste Studienfach muss nicht das richtige sein. Fächerwechsel war in Zeiten mit einem eher bildungs- als ausbildungs-orientiertem Anspruch üblich und ist heute noch genauso hilfreich und empfehlenswert. Und wer wirklich nicht studierfähig ist, schleppt das Problem auch in der Berufsausbildung mit. Manchmal hilft es auch, nach zwei oder vier Semestern erst einmal eine Durchlauferhitzung im Lehrberuf zu absolvieren, mit dem Erwerb von quadratisch, praktisch, guten Fertigkeiten und einem Kennenlernen der Arbeitswelt. Um danach dann mit einem Studium noch einmal durchzustarten.

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QR-Code – Augmented Reality gestempelt

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QR-Code-Stempel

Crossmedia und die Kombination von Holzmedien mit digitalen Medien ist ja ein Dauerbrenner. QR-Codes und ähnliche musterbasierte Marker sollen den Print-Medien Mehrwert auf Teufel komm raus verschaffen.

Auf diesen Zug bin ich aufgesprungen. Meine Briefe, Bücher und allerlei Papiersachen, auf die man gewöhnlicherweise einen Adress-Stempel aufstempelt, haben jetzt mit einem aufgestempelten QR-Code den Zugang zu einer »erweiterten Realität«, im Zeitgeist auch Augmented Reality genannt.

Ich habe mir einen Stempel mit einem QR-Code anfertigen lassen, der zu einer Mini-Website verweist. QR-Reader-App im Smartphone gestartet – Klick – zur URL der Website – alle Infos sind da. Vielmehr als je auf einen Gummistempel gepasst hätte.

Natürlich könnte der QR-Code auch auf ein Facebook-Profil, auf dieses Blog, auf eine Firmenwebsite oder auf ein LinkedIn- oder Twitter-Profil verweisen. Der Code kann ja schließlich zu jeder Internetadresse der Welt verlinken. Ich fand jedoch, dieses ist nicht die richtige Augmented Reality für meine Briefumschläge oder meine Bücher. Daher hab ich mir schnell eine kleine Website erstellt, natürlich optimiert für Smartphones und Tablets, denn den QR-Code fotografiert man ja in der Regel mit diesen Geräten und nicht mit Notebook oder Desktop-PC. ►Hier gehts zu der Augmented Reality des abgebildeten Stempels. Diese simplen smartphone-optimierten Websites erstelle ich übrigens schnell und ganz ohne Programmieren mit einer iPad-App (die ich demnächst einmal vorstelle).

Nachmachen? – Empfohlen, ganz klar.

Den QR-Code kann man online erstellen bei http://goqr.me/. Davon wird dann einfach ein Stempel angefertigt. Fairerweise platziere ich noch die Internet-URL unter dem QR-Code, da manch einer ja keinen QR-Code fotografiert, von dem er nicht weiß, wo der hin verlinkt. Da soll ja denn auch keiner die Katze im fotografieren, ohne zu wissen, dass es eine Katze ist.

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Digitaler Barock

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KOHLENLAGERPLATZ – GENTRIFIZIERT – THE HOUSE

Gestern kam ich durch die Anklamer Straße und vor dem Eckhaus zur Fehrbelliner (dort, wo früher ein Sonnenstudio im Erdgeschoß war und heute die Ergotherapie-Praxis ist) stand ein schwarz-weißer Kubus am Straßenrand. Ein Würfel, der in etwa zwei bis drei Parkplätze beansprucht, so in der Form eines aufgehübschten Baucontainers. Kunst, oder Event, dachte ich zuerst. Das wäre hier nicht ungewöhnlich. Bei näherem Hinsehen sah ich dann, dass »Natulis« dran stand. Aha, hier wird gebaut, war mein erster Gedanke. Natulis ist nämlich ein Bauträger und hat vor kurzem die Veteranenstraße 20 gebaut, direkt neben dem Acud-Kino. Damals stand so ein Container mit permanenter Maklerbesatzung dort an der Veteranenstraße.

Diese – zweifellos nicht unschicke – Maklerbude soll hier das Projekt »The House« promoten und vermarkten. Gegenüber war bis vor kurzer Zeit der Kohlenhändler Peter Hantke. Auf einem kleinen, fast dreieckigen Grundstück, begrenzt durch drei Brandmauern und die Straßenfront. Über Relikte und Anachronismen wird ja immer gerne geschrieben, so auch über den Kohlenhandel. Lesen sie dazu im Archiv der Prenzlauerberg Nachrichten, der Berliner Zeitung, bei Kirsten Küppers, im Freitag oder bei Qype. Jetzt ist er weg, der Kohlenhandel. Der Bürgersteig ist sauber. Und da man in Mitte ja jede noch so kleine, irgendwie bebaubare Lücke ausnutzt, um sie mit komfortablen und hochpreisigen Eigentumswohnungen zu bebauen, entsteht hier das Projekt mit dem einfallsreichen Namen »The House« – Gentrifizierung eben. Ok, der unaufgeräumte Kohlenplatz passte nicht mehr in diese inzwischen ansehnlich fein gewordene Straße. Eine andere sinnvolle Nutzung für ein Grundstück mit drei Brandmauern? Gibt es nicht wirklich. Also doch bebauen, meinetwegen auch mit »The House«.

Interessant finde ich bei diesen Bauprojekten, die nun mal nicht eine erste Lage haben, sondern auf Lückengrundstücken erfolgen, immer diese ausgesprochen blumigen Beschreibungen und Ideen der Aufwertung.

Fliegerbombenlücke, nicht besonders groß, in den letzten 20 Jahren Kohlenplatz, bis zum 2. Obergeschoss dreiseitig mit Brandmauern umschlossen. Was soll man tun, damit das hochpreisig verkaufbar wird? Bei »The House« hat man einen Künstler beauftragt, macht das Projekt zum Kunstwerk. Digitaler Barock heißt das dann. Näheres können Sie auf der Projektseite beim Vermarkter lesen.

Ob ich nun in diesem Kunstwerk leben möchte? Ok, im 4., 5., 6.OG sicher, da verspricht Licht und Sonne hin zu kommen. Mit Sicherheit möchte ich jedoch nicht das Kind in der Schaukel aus der Promo-3D-Animation sein, im Mini-Lichtschacht-Hof, von Mauern umgeben. Da hilft auch künstlerische Wandgestaltung nicht.

Schauen wir mal, wie das so anläuft in der Anklamer Straße. Das Quartier hier wird sicher wieder etwas aufgewertet, und wahrscheinlich finden sich auch Käufer für Wohnungen im Erdgeschoss oder im 1.OG die, trotz raumhoher Fenster immer noch relativ dunkel bleiben. Klar, das kann man sich hell reden. Vermarktet wird das Projekt von Ziegert, sicher eine der angenehmeren Maklerfirmen der Hauptstadt, werden Sie dort wohl nicht auf Mitarbeiter mit schmieriger Makler-Attitüde in knittrigen H&M-Anzügen mit Schuppen auf dem Kragen treffen. Und in gewissen Preisklassen spielt der Preis doch eigentlich keine Rolle. Man erwirbt schließlich Kunst…