Eckkneipe

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Eckkneipen waren früher etwas typisch städtisches und vor allem deutsches. Gab es auf den Dörfern Krüge, oft mit Pferdeausspannen, Gaststätten und Erbgerichte oder später, für die früh motorisierte Mittelschicht,  Ausflugsgaststätten, so fand man in den größeren Städten die im proletarischen Umfeld entstandenen Eckkneipen fast an jeder Straßenkreuzung. Dort, wo Menschen sich nach der Arbeit trafen und aufgrund beengter Wohnverhältnisse der eigenen Kurzweil und Kommunikation wegen den geringen Arbeitslohn gleich umsetzten.

In meinen urbanen Stationen, Bielefeld (… doch, gibt es schon), Hannover und Hamburg gab es zwar schon jede Menge an Studenten- und linken Szenekneipen, aber sie waren noch da, diese Eckkneipen. Zu meiner Zeit in der Hamburger Schanze war Büdels Bierdeckel quasi nebenan und Hellas Biereck nicht weit. Nun, das Biereck ist längst weggentrifiziert, der Bierdeckel zog um, und ob es ihn heute noch gibt, weiß ich nicht. Meine Kneipen waren es nie, ich fand sie als Institution jedoch  interessant.

In Berlin gab diese Eckkneipen natürlich auch. Der ganze Prenzlauer Berg und Wedding war voll von diesen proletarischen Treffpunkten der späten  Industrialisierung. Vor vielen Jahrzehnten, vor Weltkrieg, Sozialismus und Wende.

Sozialismus, Gentrifizierung und Hipstertum haben jedoch ihre Spuren hinterlassen. Die klassische Eckkneipe, mit dem Eingang an der Hausecke, dem  rotbraunen, an einer Messingstange im Halbrund gleitenden Wollvorhang direkt hinter der Tür, der oft wie eine schwerlich durchdringbare Schleuse anmutet, jedoch die Berliner Kälte gut abhält, diese Eckkneipen mit einem langem Tresen und der moderne Therapien ersetzenden Wirtin, mit unlackierten Tischen, für diejenigen, die intimer ihre Molle trinken möchten, diese Berliner Treffpunkte gibt es nahezu nicht mehr in den angesagten Vierteln der Gentrifizierung. Warum auch, die Zeiten haben sich geändert und wir, die wir dort wohnen, sind andere Menschen mit veganen oder sonstwie anderen Interessen.

Eine Eckkneipe, deren Publikum gewiss auch nicht mehr viel mit der alten Eckkneipenkultur zu tun hat, deren Lage und Interieur mich jedoch immer sehr daran erinnern, ist das Hackbarth´s an der Ecke Auguststraße/Joachimstraße. Heute ist hier eine angenehme Raucherkneipe mit nicht allzu sehr hipsteresken, jedoch eben Berlin-Mitte-Publikum. Dafür ist das Interieur so, wie es schon vor 40, 60 oder 90 Jahren ausgesehen haben könnte. Nicht alt und gammlig, aber eben zeitlos Eckkneipe. Eine angenehme Mischung aus nicht allzu exaltiertem Publikum und traditioneller Eckkneipe. Mit ocker-braun gemalten Wänden, gelblichem Licht und natürlich dem beschriebenen Wollvorhang.

Ein nach innen, ins Haus gerichteter, gemütlicher Treffpunkt, der zumindest in der kalten Jahreszeit etwas Heimelichkeit ausstrahlt. So etwas typisch deutsches, befand meine italienische Freundin vor guten 25 Jahren und verwendete immer die Worte in una Kneipe, weil es eben diese Institution, in der man vorzugsweise abends gemütlich sitzt und trinkt, in Italien so nicht gäbe. Die italienische Bar sei nämlich etwas gaanz anderes. Nun, auch das mag sich im letzten Vierteljahrhundert geändert haben.

Lauf der Sympathie

 

Vor einigen Jahren bin ich ziemlich viel gelaufen. Nicht übermäßig, aber doch regelmäßig habe ich im Grunewald trainiert und in den Sommermonaten an dem ein oder anderen Volkslauf oder Halbmarathon teilgenommen. Leider ist das vorbei. Irgendwie bin ich aus dem Laufen rausgekommen, alles hat eben so seine Zeit. 

Nach mehreren Jahren habe ich am letzten Sonntag nun wieder am Lauf der Sympathie teilgenommen. Dieser Volkslauf findet jedes Jahr in der zweiten Märzhälfte statt. 10 km geht es von Falkensee, kurz hinter der Berliner Stadtgrenze, nach Berlin-Spandau. Früher sagte ich immer Anlaufen dazu, so wie die Segler Ansegeln sagen, wenn sie das erste Mal nach der Winterpause ihre Boote zu Wasser lassen. Freilich, 10 km sind für mich im Moment doch recht anstrengend, aber es hat Spaß gemacht, und interessanter als den Sonntagmorgen in Bett und Badewanne zu verbringen war es zudem. Dafür gibt es ja noch andere Sonntage. Wie bei jedem Volkslauf bekam jeder eine Medaille, mit der zwar keiner so richtig weiß, was er damit tun soll, die alle jedoch trotzdem immer gerne nehmen. Für’s Foto, zum Hinhängen, den Kindern geben oder als Schlüsselanhänger. 

Interessant ist am Lauf der Sympathie sicher die Geschichte. Wenige Monate nach der deutsch-deutschen Grenzöffnung beschließen ein West- und ein Ost-Sportverein einen gemeinsamen, grenzüberschreitenden Volkslauf zu organisieren. Damals noch von der DDR (Falkensee) nach West-Berlin (Spandau). Das war 1990. Ein Jahr später gab es die DDR schon nicht mehr. Der Lauf der Sympathie wurde über die Jahre jedoch ein regelrechter Renner. In diesem Jahr war es bereits der 26. Lauf der Sympathie, inzwischen ein etabliertes Laufereignis in der Berliner Laufszene. Ich denke, ich bin bei Nummer 27 im nächsten Jahr wieder dabei. 

90plus für 45plus

Schmale Tische machen kirre.

Die optimale Bestager-Tischbreite: Gerade sitze ich mit Miz Kitty beim besten Sushi-Imbiss am Berliner Zionskirchplatz. Es gibt an diesem Platz nur einen einzigen Sushi-Imbiss. Der ist jedoch so gut, dass er sich tatsächlich mit anderen messen könnte und sehr wahrscheinlich der Beste wäre. Allerdings ist es freilich eher ein Imbiss als ein Restaurant. 24 Plätze gibt es hier in einem nicht allzu großen Raum. Schmale 2er-Tische, allesamt an einer Seite an eine Wand grenzend, aus hellem Holz, mit simplen, aus drei Brettern schön geformten, kastenartigen Hockern davor und meist als Ensemble für vier Personen zusammen gestellt. Die Tische sind ziemlich schmal, zwei mal 24 cm und dann noch ca. 7 cm mehr, das habe ich gerade mit meinem iPad abgemessen. 55 cm also. 


Schön, da kommt man sich näher. Nur, Miz Kitty und ich, wir sind ein Ehepaar, wir sind uns schon nahe. Heute sitzt sie, wie es sich für ein Ehe- und Liebespaar gehört, wie immer mir gegenüber. Wir wollen uns schließlich in die Augen schauen. Dann rückt sie auf den Platz diagonal von mir gegenüber. Sie sähe mich nur unscharf, sagt sie, das mache etwas kirre, dieser Tisch sei einfach zu schmal und die Brille ist in der Wohnung. Das kann ich gut verstehen. Ich kenne es, ich sehe nämlich vieles nahe inzwischen unscharf. Wtf, schmale Tische, die einen kirre machen aufgrund zu früh einsetzender Altersweitsichtigkeit. 


Wir haben etwas überlegt und gerechnet: 90 bis 100 cm ist wohl die optimale Tischbreite für Menschen ab 45. Dann sieht man sein Gegenüber bei normalem Altersabbau noch ohne Brille schön scharf. Also aufgepasst, Ihr Möbeldesigner für hochwertiges Best-Ager-Equipment und Ihr Dating-Café-Betreiber für die zweite Lebenshälfte. So müssen Eure Tische sein.  


Ich selbst bin ja bin konsequenter Lesebrillenverweigerer. Zumindest möchte ich diesen Moment noch etwas hinauszögern. Dafür gibt es doch die Bedienungshilfen des Apple-iOS. Zum Beispiel die extra große Schrift inklusive der netten Bemerkungen wie: „Diese Schrift ist ja wirklich für Blinde.“ Damit haben die Mitmenschen doch gute Möglichkeiten, ein Gespräch anzufangen, ohne übers Wetter reden zu müssen. Falls ich etwas gar nicht mehr scharf erkennen kann, hilft weiterhin die Smartphone-/iPhone-Kamera. Abfotografieren und mit Fingerschnips vergrößern schafft mir eine scharfe Detailsicht. Oder die Kamera einschalten, vorher vergrößern, mit der einen Hand festhalten und mit der anderen machen – und gleichzeitig die Vergrößerung am iPhone-Display betrachten. Mein Tipp für den Fall, dass Sie auch von natürlicher Weitsichtigkeit und nachlassender Sehkraft betroffen sind.


Ok, wenn ich dann über 50 bin, gönne ich mir irgendwann auch eine Lesebrille. Alternativ-rund oder ein – vermutlich eher – ein rahmenloses Modell mit halben Gläsern zum Drüberschauen und der Anmutung von „Ich-bin-ja-Designer-und-besserverdienend“. Aber bis dahin ist es noch lange hin. Vorher gibt es vielleicht heimlich eine Billigversion im Flughafenshop oder Drogeriediscounter.


Ach ja, und jetzt möchten Sie wissen, wie der beste Sushi-Imbiss am Platz heißt? Es ist Hangi Sushi. Gerne gehen wir hier hin, Sushi oder eine scharfe Suppe essen und für mich dazu ein Weizen. Lecker und freundlich ist es hier. Testen Sie es gern. 

 

Wo Sie nicht burgern sollten – White Trash

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Aus der Reihe »Wo Sie nicht hingehen sollten«

Bevor Sie ins White Trash gehen, lassen Sie sich das letztere der beiden Worte am besten noch einmal auf der Zunge zergehen. Früher war diese Location an der Schönhauser Allee und wurde ziemlich gehyped. Freilich, die Burger waren sicher besser als bei Burger King und McDonald’s, richtig wohl gefühlt habe ich mich die paar Mal, die ich im White Trash war, jedoch nie. Immerhin war es damals akzeptabel, als es noch nicht so viel Burger-Lokale in Berlin gab.

Vor einiger Zeit ist das White Trash von der Schönhauser Allee an den Flutgraben gezogen, an das Ende der Schlesischen Straße, in ein Ex-Autohaus. Im Sommer werden die Burger auch in einem ziemlich gammeligen Außenbereich serviert, so wie es dort im hintersten Kreuzberg an der Grenze zu Treptow im Moment zum allgemeinen Standard gehört. Nicht mein Stil, aber für junges Szene-Publikum und Provinzler, die den Kreuzberg-Hype mögen, vielleicht ganz erträglich. Wenn der Laden sonst stimmen würde, wäre das alles im grünen Bereich. Leider stimmt es dort ganz und gar nicht. Wer nur Burger essen möchte, zahlt erst einmal einen Euro Eintritt für die DJ-Beschallung in der Musikkneipe im White Trash, auch wenn man dort gar nicht hinein möchte. Zu späterer Stunde sind dann fünf Euro fällig, für eine Lifeband-Beschallung. Das wäre irgendwie auch noch ok.

Ärgerlich ist es dagegen, dass ein simpler halber Liter Bier fünf Euro kostet, was bei dem Standard des Lokals sicher überteuert ist. Ein kleines Bier gibt es erst gar nicht. Ärgerlicher ist es, dass die Burger nach dem Umzug sehr viel schlechter geworden sind. So war es zumindest am letzten Samstag Abend. So gar nichts besonderes hat dieses White Trash also zu bieten. Lokal und Angebot muten eher wie Touristennepp mit Klappstühlen, überhöhten Preisen und unterdurchschnittlicher Qualität an. Alles das ist an sich ein Grund, das White Trash zu meiden. Bessere Burger gibt es in Berlin an vielen anderen Orten.

Noch ärgerlicher wurde unser Besuch am Samstag jedoch zum Ende hin. Wir waren in einer größeren Gruppe dort. Ein Blog’n’Burger-Treffen. Normalerweise wird in solch großen Gruppen einzeln gezahlt. Nicht jedoch im White Trash. Dort empfindet man das als zu aufwändig und stellt nur eine komplette Rechnung für die gesamte Gruppe. Wir sammelten also im Glas. Der Organisator des Blog’n’Burger, Chris, der mit dem White Trash die Reservierung vereinbart hatte, zählte noch einmal nach. Die Summe war einige 100 € groß und im Glas war zudem noch einiges an Trinkgeld. Das Personal bekam das Geld und alles ist fein – dachten wir zumindest.

Kurze Zeit später kam jemand vom White Trash an den Tisch und sagte, es wären 10 % Trinkgeld vereinbart gewesen. Er forderte diese 10 % auch nachdrücklich ein. Sie wären »vertraglich vereinbart« gewesen. Freilich, so etwas geht rechtlich gar nicht. Natürlich erfüllten wir diesen frech-dreisten Anspruch auch nicht. Nach einigem Hin und Her hieß es patzig, wir könnten dort nie wieder reservieren. Gut, dass muss die Blog’n’Burger-Crew im White Trash mit seinen Klappstühlen, der Burger-Qualität und seinen Bierpreisen auch sicher nicht mehr. Frech ist es ja ohnehin schon, in eine Reservierungsbestätigung zu schreiben, man erwarte 10 % Trinkgeld. In solche Lokale muss man doch nicht gehen.

Alles in allem ist es sicherlich eine gute Empfehllung, nicht im White Trash einzukehren.

Sterne: null von fünf möglichen.

Novemberausblick

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Wie immer ist der November der Herbstmonat mit der großen Tristesse. Die Tage werden merklich kürzer, und es wird manchmal nur wenig hell. Kahl, trist, farblos, unbunt – vieles könnte jetzt heller und wärmer sein. In fünf Wochen ist Weihnachten, was uns in diesem Jahr wieder keiner rechtzeitig gesagt hat. Die Stollen sind hier bereits gebacken und eingelagert und morgen kommt das Kekskommando für die Weihnachtsplätzchen. In einer guten Woche wird dann noch ein großer Tisch geliefert. Viele Dinge laufen gerade parallel.
Für alle, mich auf Twitter nicht regelmäßig lesen, habe ich die November-Skyline, die man hier aus Büro und Wohnung sieht, als Foto eingestellt. Novemberfarben. Noch ist kein Schnee, und das ist gut so. Ich mag keinen Schnee in dieser Stadt.

Ost-West-Deutsche Paare

Ost-West-Paare

25 Jahre sind seit der Grenzöffnung durch die DDR vergangen. Seitdem hat sich viel getan in Deutschland. Manche Menschen hätten sich ohne dieses Ereignis und die Deutsch-deutsche Vereinigung nie kennengelernt. Andere wären nie ein Ehepaar geworden. So z.B. Miz Kitty und ich. Miz Kitty ist in der DDR aufgewachsen, ich in der alten BRD. Aus diesem Grund sind wir seit gestern Bestandteil einer Kunstaktion. Sabine Welz von Art Domino hat 25 Ehepaare im Pop-Art-Stil auf Leinwand gebracht, von denen jeweils der eine Partner aus dem Osten und der andere Partner aus dem Westen kommt. Aneinandergereiht wie Dominosteine ergibt sich ein großes Kunstwerk von 5 mal 2,5 Meter. Die Kunstinstallation ist noch bis zum 11. November im Berliner Europa-Center neben der Uhr der fließenden Zeit zu sehen.

Und jetzt möchten Sie wissen, wo unsere Portraits in dem Geamtwerk sind? Nun, schauen Sie sich meinen Twitter-Avatar an, dann finden Sie mich, auch ohne Propeller.

 

Die DDR, der Mauerfall und ich

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Vor 25 Jahren

Heute ist der 9. November 2014. Vor 25 Jahren öffnete die DDR nach einigem hin und her die Grenze zu West-Berlin und zur alten Bundesrepublik. Ein historischer Tag.

Ganz Berlin scheint in diesen Tagen auf den Beinen zu sein. Auf einem Teil des ehemaligen Verlaufs der Berliner Mauer sind gasgefüllte Ballons dicht an dicht aneinander gereiht, eine Lichtinstallation, die Lichtgrenze. Heute, am Jahrestag der Grenzöffnung werden sie nach und nach in den Himmel fliegen. Die Grenze löst sich auf und verschwindet. Gestern und vorgestern Abend waren viele Berliner an dieser Lichtgrenze unterwegs, mit Kind und Kegel. In der historischen Mitte der Hauptstadt, an der Bernauer Straße, im Mauerpark und natürlich an der Bornholmer Straße, dort an der Bösebrücke, wo die Grenze zuerst geöffnet wurde. Die Berliner zieht es immer schnell zu Events und zu diesem erst recht. Manchem steht das Déjà-vu ins Gesicht geschrieben.

Seit 1998 lebe ich in Berlin, und schon fast zehn Jahre hier in Berlin-Mitte, am Zionskirchplatz. Die Bernauer Straße, dort wo ich dieses Foto gestern machte, ist von unserer Wohnung fußläufig schnell zu erreichen. Es ist die Straße, die Mitte bzw. Prenzlauer Berg vom Wedding trennt, die ehemalgige Sektorengrenze. Dort, wo die Straße zum französischen Sektor gehörte, die anliegenden Häuser jedoch zum sowjetischen. Dort, wo im August 1961 Menschen aus den Häusern in den Westen sprangen, in die Sprungtücher der Westberliner Feuerwehr. Jeder, der in Westdeutschland aufgewachsen ist, kennt die Bilder aus dem Geschichtsbuch.

Viele erinnern sich heute, was sie am 9. November 1989 gemacht haben. Ich studierte damals in Hannover. Der 10. November, also der Morgen danach, war dort ein trüber Herbsttag. Natürlich gab es in den Tagen und Wochen vorher immer wieder Berichte über die DDR, über Montagsdemonstrationen, die Prager Botschaft, die Ausreise über Ungarn, etc. Das alles interessierte mich schon, nur eben mit dem Stellenwert wie so viele andere Dinge auch. Einen wirklichen Bezug zur DDR, dem ostdeutschen Staat, hatte ich nämlich nicht. So lief ich am 10. November 1989 vom Hauptgebäude der Uni Hannover durch den kleinen Park zu den Institutsgebäuden am Schneiderberg. Ein Kommilitone kam mir entgegen und wir wechselten ein paar Worte. Er fragte dann: »Haste schon gehört, die Mauer ist offen in Berlin.« Ich hatte es noch nicht gehört und hatte freilich nichts von der Nacht auf der Brücke der Bornhomer Straße mitbekommen. Ok, jetzt war die DDR-Grenze offen. Eine Bedeutung hatte das damals für mich nicht. Nicht im Traum hätte ich mir ausmalen können, dass ich Jahre später ziemlich nah an Bernauer und Bornholmer Straße leben würde. In Berlin. Und noch weniger hätte ich mir ausmalen können, dass ich 25 Jahre später in meiner Wohnung stehe, mit einer Frau aus der Ex-DDR verheiratet sein würde und vom Ende der Veteranenstraße über die historische Mitte bis zu Funkstation Tempelhof schaue – vom alten Osten in den alten Westen. Dorthin, wo die Menschen in die alte BRD ausgeflogen wurden, die Berlin nicht auf dem Landweg verlassen konnten.

Berlin war für mich als westdeutsches Mittelstandskind weit weg, und die DDR, die war noch viel weiter weg. Meine Familie hatte keine Verwandten in der DDR. Daher war dieser zweite deutsche Staat auch für ein meine Eltern außerhalb ihres Fokus. Das war Ausland, weit beschwerlicher zu erreichen als Österreich. Warum sollte man sich dafür interessieren? So war meine Kenntnis als Schulkind über Orte in der DDR und in den deutschen, heute meist polnischen, Ostgebieten schnell besser als die meiner Eltern. Es gab mehrere Lehrer, die selbst aus der DDR und aus den deutschen Ostgebieten kamen. Sie erzählten uns viel über die deutsche Teilung, die DDR, ihre Erfahrungen dort (mit Ausreise, Flucht, etc.) und auch über die deutschen Ostgebiete in Polen. Freilich, immer mit dem Tenor, dort seien ungerechte Menschenunterdrücker am Werk, die Land und Leute drangsalierten, aber wir müssten gerüstet sein, das Land und seine Städte zu kennen, für den Fall, dass mit Amerika-Hilfe die Wiedervereinigung kommt und wir dann unseren deutschen Brüdern die Freiheit bringen – woran diese Lehrer Anfang der 70er Jahre wohl ernsthaft glaubten, dass es eintritt. Ich war ein neugieriges Kind und mich begeisterten diese Erzählungen über den Osten schon. Wie schön alles gewesen sei, dass wir uns an Amerika hängen müssten, damit die Menschen in der DDR – die Verwandten der Lehrer und Mitschüler – endlich nicht mehr eingesperrt wären, uns besuchen könnten, wann sie wollten und zu dem gleichen Wohlstand kämen wie wir. Seit dieser Zeit kenne ich – freilich nur vom Hörensagen – den Unterschied zwischen Thüringen und Sachsen und seitdem weiß ich, wo Schlesien, Pommern und das Wartheland liegt, dass Breslau in Schlesien ist und Königsberg in Ostpreußen. Kurze Zeit später kamen die 68er-Lehrer, die die DDR und die polnische Westgrenze sowieso als manifestiert ansahen und uns mitteilten, wie schlecht und ungerecht die Bundesrepublik mit ihrer RAF-Rasterfahndung sei und dass die Kommunisten im Osten nicht unsympathisch seien und gute, soziale Dinge täten. Nun, mit diesen Lehrern kam ich als angepasstes Schulkind sowieso nicht klar, aber das ist ein anderes Kapitel. Ihre Wirkung war jedoch begrenzt.

Herr Bergner kommt aus der Niederlausitz. Das sagte meine Großmutter einmal über einen Nachbarn. Niederlausitz, das klingt für ein Schulkind schon merkwürdig exotisch, zumindest wenn die Landschaften drumherum Westfalen, Weserbergland, Münsterland, Niedersachsen oder Sauerland heißen. Ich fragte also, wo das genau ist und bekam zunächst die Standard-Antwort: »Im Osten.« Wo denn da, in Polen oder in Russland? Mit ziemlich viel Aufwand fanden wir dann heraus, dass die Niederlausitz ganz im Osten der DDR, rund um Cottbus und Guben liegt. So habe ich es mir damals jedenfalls gemerkt.

Bei meinen Schulfreunden sah das anders aus. Einige hatten Verwandtschaft in der DDR, in Gera, in Leipzig oder in Dresden. Da war es in den 70ern ein Thema, Pakete an die Cousins und Cousinen zu schicken, diese zu besuchen oder zur Beerdigung Verwandter zu fahren – und natürlich nachher zu erzählen, wie viel schlechter und ärmlicher es denen geht, dass man sich aber gefreut habe, sie zu sehen und man jetzt dies und jenes kaufen werde, um Ihnen das zu schicken, weil es das dort nicht gäbe. Von einem Mitschüler bekam ich einmal hochwertige Spulen-Tonbänder geschenkt. Die Familie musste sie bei der Einreise in die DDR zurückschicken, sie waren für die Verwandten bestimmt und durften nicht eingeführt werden. Nun waren sie übrig und ich bekam sie geschenkt, da die Familie selbst kein Tonbandgerät hatte. Es waren wohl die (relativ) teuersten und hochwertigsten Tonbänder, die ich jemals besaß. Gut kann ich mich daran erinnern, dass Dinge, wie Pakete nach drüben zu schicken, zu meiner Grundschulzeit auf den Kindergeburtstagen ein Thema waren. Ich habe den Eindruck, dass dieses in den späten 70ern und 80ern nachließ. Mag sein, dass ich andere Schulfreunde hatte, die eben auch keinen oder nur wenig Bezug zur DDR hatten, es kann aber auch sein, dass in den späten 70ern die deutsche Teilung als gegeben hingenommen wurde und alle sich mehr im Westen etabliert hatten, die nahen Verwandten auch ausgereist oder schon gestorben waren und die Besuche seltener wurden. Ich weiß nicht, ob es wirklich so ist, oder ob es subjektive Wahrnehmung ist. DDR, Osten, Herkunft der Eltern, Verwandte dort, das waren zumindest auch für meine Schulfreunde in den 80ern keine relevanten Themen mehr, und für mich sowieso nicht.

Mein Interesse an der DDR, dem deutschen Osten, etc. war jedenfalls in den 80ern erloschen. Ohnehin wurde die DDR nur als graue, ungerechte Diktatur mit Mangelwirtschaft beschrieben, als ein Ort, wo man besser nicht hinfahren sollte, vielleicht ins Gefängnis kommt, etc. Als Teenager macht man sich dann schon seine Gedanken und kann auch schon einiges bewerten. »Das müssen komische Menschen dort sein, die ihre Mitmenschen einsperren und ihnen nicht erlauben, ihre Verwandten in der Bundesrepublik zu besuchen. Die es nicht mal zulassen, dass man ein unbespielttes Tonband mitnehmen darf. Ehrlich, was will man da?« So dachte ich.

Während einer von der Bundesrepublik finanziell geförderten Schülerreise war ich in West-Berlin und im trostlos-grauen Ost-Berlin. Mit diesem Berlin konnte ich wenig anfangen. Ich war kein Abenteurer. Ich wollte es am Liebsten so, wie zu Hause. Einige aus meinem Gymnasium zog es nach dem Abitur nach West-Berlin. Dorthin, wo man nicht zur Bundeswehr musste, wo alles alternativer, unkomplizierter und weniger bürgerlich war. Das interessierte mich nicht. Ich wäre dort hoffnungslos untergegangen. Zudem wurde mir von meinen Eltern vermittelt, bloß nicht in Berlin zu studieren, da man ja ständig über diese Transit-Strecke fahren müsse und man nie wisse was dort passiert. Was hätte passieren können, vielleicht waren da Menschenfresser hinterm Busch? Da mag auch noch die Erzählung des Vaters einer früheren Mitschülerin bei mir einen Eindruck hinterlassen haben, der nach West-Berlin nur noch per Flugzeug reiste, weil er unter problematischen Umständen die DDR verlassen hatte und das Risiko nicht eingehen wollte, bei einem Transit auf dem Landwege festgenommen zu werden.

Ich habe dann in Hannover studiert. Sie wissen schon, dort wo Deutschland am saubersten spricht, die Leute ordentlich sind, in den Mietshäusern die Menschen ihre Treppe abwechselnd selber putzen, mit Putzplan und Unterschriftenliste zum Abzeichnen und an den nächsten Nachbarn weiterzugeben. Und wehe, Sie haben die Liste einmal vergessen und einfach weggepackt. Hannover, ordentlich, korrekt, unprätentiös, nich auffallender Durchschnitt. Als die Grenze geöffnet wurde, waren auch in Hannover einige meiner Kommilitonen gespannt wie der Flitzebogen, was nun kommen würde und neugierig auf die DDR, auch auf die DDR-Mädchen und -Jungs. Diese Neugier war mir abhanden gekommen. Vielleicht lag es an Hannover, der Stadt mit meinen bittersten Zeiten, mit der ich immer noch keinen richtigen Frieden geschlossen habe.

Ich hatte jedenfalls kein Interesse, mir die DDR anzuschauen. Ich kannte dort keinen und hatte genug mit mir selbst zu tun. Mir reichte diese verstopfte A2-Autobahn, über die ich fahren musste, wenn ich meinen Heimatort besuchte. Komisch aussehende Menschen gedrängt in komischen Autos. Die komplette A2 war benebelt von den blauen Zweitakt-Abgasfahnen. Klar, da könnte man selbst auch mal rüberfahren, ein bisschen genauer schauen, irgendwann einmal.

Als die D-Mark längst eingeführt und die Grenze schon lange offen war, fuhr ich ein paar mal mit dem überfüllten Regionalzug Richtung Sachsen-Anhalt. Morgens hin, abends zurück. Mich triggerte da nichts, ich fand das nicht interessant. Der kleinbürgerliche hannoversche Kosmos, ein Abbild meines Elternhauses, hatte mich gefangen. Die allseitigen Klagen, es gäbe jetzt keine günstgen Gebrauchtwagen mehr, weil die Ostdeutschen alles weg kauften, die Klagen, dass man in Geschäften manches gar nicht mehr bekomme und die Klagen meiner Hildesheimer Auftraggeber, die Kunden und Lieferanten würden jetzt im Osten investieren und eigene Betriebe aufbauen, wodurch man als kleiner Mittelständler ins Gras beiße. Und was das alles koste. Die Ost-Familien wären jetzt mit der D-Mark alle reicher als man selbst, weil beide Partner berufstätig seien, beide Rente bekämen, usw., usw. Ich muss mir zugute halten, diese Weltsichten aus der Hannoverschen Kartoffelgalaxie nie geteilt zu haben. Ein Interesse am neuen deutschen Osten ergab sich dadurch jedoch erst recht nicht.

In diesem Kosmos war ich dann einer der wenigen, die sich dafür aussprachen, die Wiedervereinigung schnell zu vollziehen, wenn die Ostdeutschen das selbst wollten. Nicht aus deutsch-deutschem Zusammengehörigkeitsgefühl, sondern ich hielt die Russen für unberechenbar und dachte, man müsse sofort Nägel mit Köpfen machen und eine große Bundesrepublik schneidern, bevor diesen Russen noch etwas anderes einfällt. Dass es 25 Jahre – und mancherorts länger – dauern würde, bis Landschaften blühen, das war mir klar und vielen anderen sicher auch.

Erhellend, erschreckend, ermutigend: Den ersten richtigen Ost-Kontakt hatte ich, als ich nach der Vereinigung Facharbeiter mit Berufsbezeichnung Ost zu Facharbeitern der gleichen Branche mit Berufsbezeichnung West umschulte. Von vorher arbeitslos zu nachher arbeitslos. Genauer gesagt habe ich einzelne Kurse im Rahmen dieser Umschulungen in Brandenburg gegeben. Das war erhellend, aber auch erschreckend. Und auch ermutigend.

Erhellend, wie die Situation zwei Jahre nach der Grenzöffnung wirklich aussah. Erhellend über westdeutsche Interessen und die Mechanismen des Kapitalismus. Und erhellend über die ostdeutsche Verhaltensweisen. Erschreckend, wie viel Westprodukte dort in den Regalen lagen. Es sah so aus, als ob dieser untergegangene Staat keine Waren- und Marken-Vergangenheit hatte. Stellen Sie sich vor, Sie tauschen jetzt Ihre Euro-Scheine gegen eine andere Währung und sämtliche Waren und Dienstleistungen werden in relativ kurzer Zeit durch andere, manchmal nur vermeintlich, oft aber tatsächlich bessere, in der Regel aber buntere, ausgetauscht. Das Ganze natürlich im alten, nicht so schnell änderbaren Ambiente der bröckelnden Fassade und mit den alten Akteuren. Erschreckend, diese Kombination aus tradierten Ost-Verhaltensweisen, einer Orientierungslosigkeit, Frühkapitalistischen Gegebenheiten und bunter Markenwelt. Zum Besserwessi taugte ich damals nicht. Dazu bin ich zu zurückhaltend. Es mag sein, dass dieses die Ursache war, warum ich bei meinen Einsätzen in der brandenburgischen Provinz immer sehr herzlich und freundlich empfangen wurde. Das war ermutigend für mich. Ermutigend, mich mit der DDR zu befassen. Mir die Gegend anzuschauen, was dort so möglich ist. Und mitzuerleben, was sich dort entwickelt. Kontakte zu netten Menschen zu knüpfen und vielleicht dort einmal dauerhaft zu arbeiten.

Kurze Zeit später hatte ich mein Studium beendet und zog nach Hamburg. Hamburg, dieses Tor zur Welt mit Elbe und Alster, großen Schiffen, den mir mental nicht fremden Menschen, ein Ort, an dem vieles etwas gediegener und ästhetischer ist als im Rest der Republik, egal ob in Ost oder in West. Diese Stadt rockte für mich und Norddeutschland sowieso. Ich fand schnell Anschluss und eine nette Hausgemeinschaft. In dieser Stadt, dachte ich, bleibe ich den Rest des Lebens. Nur, es gab dort ein anderes Problem. Zufällig verschlug es mich nach Berlin, die Ereignisse überschlugen sich im Positiven und ich blieb hier.

Ein paar Jahre nach dem Mauerfall gab es hier in Berlin im Osten noch den Osten und im Westen noch den Westen und die Mitte war eine Kombination von Aufbruch und Gammel. Vieles gab es hier zu entdecken und mit meiner damaligen Freundin entdeckte ich, ziemlich viel und immer mehr. Schön, wie sich hier alles entwickelte. Und ich mittendrin, glücklich. Ich machte einen Quantensprung, und Berlin machte auch einen Quantensprung, hin zum Internationalen. Und dann noch einen, hin zur Ästhetik. Leider ist letzteres oft mit Gentrifizierung verbunden. Erst und moderat fand ich sie gut. Alles wurde so schön, nobel, und edel, mit internationalem Flair. Inzwischen kommen mir ernsthafte Zweifel.

Freilich, es gibt sie noch, die Ost-Stadtteile, die man eindeutig als Osten wahrnimmt und die West-Stadtteile, die man als Westen wahrnimmt. Die Metropole hat jedoch längst andere Kategorien: Berliner, Schwaben, deutschsprachig, englischsprachig, international, mit Migrationshintergrund oder ohne.

In 25 Jahren, am 9. November 2039. Wer weiß, wo wir dann leben? Wenn alles so gut wird, wie es wurde, dann ist es gut.

Geschwommen

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Längs durch den Schlachtensee.

Schwimmen sie mehr, das tut Ihnen gut! Gestern bin ich längs durch den Berliner →Schlachtensee geschwommen, 2,6 km Entspannung geradeaus. Eigentlich waren Miz Kitty und ich verabredet, um etwas raus zu fahren und dabei vielleicht schwimmen zu gehen. Nun, die Miz hatte eine anstrengende Woche und war am Freitag Abend schon auswärts, in Brandenburg, schwimmen. Sie wollte nicht schon wieder ins Wasser. Also nutzte ich die Gelegenheit. Ich wollte wieder einmal richtig lang schwimmen (für meine Verhältnisse zumindest) und bevorzuge es, durch Seen komplett hindurch zu schwimmen. Dann habe ich ein Ziel, kann mir nachher auf der Landkarte schön die Strecke anschauen, habe das Gefühl, etwas geschafft zu haben und kann abends damit glänzen, indem ich erzähle, ich wäre durch den und den See ganz hindurch geschwommen, längs, versteht sich, die längere Strecke. Irgendwie schafft mir dieses Durchqueren ganzer Gewässer ein klein wenig mehr Glücksgefühl als einfach in die Mitte zu schwimmen und zurück.

So eine Seequerung ist jedoch immer etwas mit logistischen Problemen verbunden. Man kommt an anderer Stelle aus dem Wasser, als dort, wo man eingestiegen ist und muss irgendwie zum Auto zurück. Da Kitty gestern nicht schwimmen wollte, hat sie mich am westlichen Ende des Berliner Schlachtensees rausgelassen und ist mit dem Auto zum östlichen Ende gefahren, dort wo sich das Restaurant Fischerhütte befindet. Ich habe derweil die 2,6 km längs durch den See geschwommen. Herrlich.

Jetzt werden Sie sagen, der will auch noch im blog damit glänzen, dass er längs durch den See schwimmen kann. Ja, mag sein, ein nein wäre vielleicht gelogen. Vor allem möchte ich jedoch eines: Sie motivieren, es mir gleich zu tun. Wenn Sie längs nicht schaffen, schwimmen Sie quer durch, aber schwimmen Sie mal richtig lang am Stück geradeaus. Das wird Ihnen gut tun.

Und ich, ich wiederhole das bei nächster Gelegenheit – und freue mich außerdem riesig auf das →Elbschwimmen in Dresden, im August.

Wir sehen uns, schwimmend, ok?