Der Charme der Nebenstraße

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Heute ist der 21. Juni, der längste Tag des Jahres. So richtig Sommergefühle habe ich in diesem Jahr noch nicht. Woher auch, der Winter war mild, der Frühling lang und angenehm und diese pappheißen Tage, die es hier in Berlin oft schon im Mai gibt, wenn der Winter lang und kalt war, blieben in diesem Jahr aus. Trotzdem ist es sehr angenehm und vielleicht in diesem Jar sogar viel angenehmer als das übliche Berliner Klima. Man kann draußen sitzen, nur ist eben kein T-Shirt Wetter.

Wie immer am 21. Juni ist heute wieder in die Fête de la Musique. Vor Jahren, als ich hier her zog, war auch der Platz vor der Zionskirche eine richtige Festival-Location während der Fête . Inzwischen wechselten die Kirchenmänner – oder besser gesagt -frauen – und heute ist es hier ruhiger. Dafür gibt es an der Kastanienallee allerlei gute und schlechte Livemusik und im Mauerpark große Bühnen. Diese Open-Air-Veranstaltung sind allesamt im Moment nicht unseres. So verließen wir eben, das Lokal, in dem wir Sonntagabends manchal essen, fluchtartig. Zwei Häuser weiter spielte eine Band, die ich weder von ihrer Lautstärke noch von  der musikalischen Darbietung während des Essens ertragen mochte. Also eine Straße witer, zum Inder in die Oderberger Straße. Freilich, die Musik lies auch nicht dort nicht lange auf sich warten, inklusive der Menschenströme, die vom Mauerpark kamen oder dahin liefen.

Inzwischen habe ich es mir jedoch dort bequem gemacht, wo die Massen nicht hinkommen. Vorm Rebkeller in der Zionskirchestraße. In den warmen Monaten kann man vor dem kleinen Souterrain-Weinlokal auf der Straße sitzen. Nicht spektakulär, aber mit dem Charme der Nebenstraßen rund um den Zionskirchplatz. Hier genieße ich gerade einen spanischen Rosé, lasse langsam das Wochenende ausklingen und lasse die Fête de la Musique eben Fête de la Musique sein.

90plus für 45plus

Schmale Tische machen kirre.

Die optimale Bestager-Tischbreite: Gerade sitze ich mit Miz Kitty beim besten Sushi-Imbiss am Berliner Zionskirchplatz. Es gibt an diesem Platz nur einen einzigen Sushi-Imbiss. Der ist jedoch so gut, dass er sich tatsächlich mit anderen messen könnte und sehr wahrscheinlich der Beste wäre. Allerdings ist es freilich eher ein Imbiss als ein Restaurant. 24 Plätze gibt es hier in einem nicht allzu großen Raum. Schmale 2er-Tische, allesamt an einer Seite an eine Wand grenzend, aus hellem Holz, mit simplen, aus drei Brettern schön geformten, kastenartigen Hockern davor und meist als Ensemble für vier Personen zusammen gestellt. Die Tische sind ziemlich schmal, zwei mal 24 cm und dann noch ca. 7 cm mehr, das habe ich gerade mit meinem iPad abgemessen. 55 cm also. 


Schön, da kommt man sich näher. Nur, Miz Kitty und ich, wir sind ein Ehepaar, wir sind uns schon nahe. Heute sitzt sie, wie es sich für ein Ehe- und Liebespaar gehört, wie immer mir gegenüber. Wir wollen uns schließlich in die Augen schauen. Dann rückt sie auf den Platz diagonal von mir gegenüber. Sie sähe mich nur unscharf, sagt sie, das mache etwas kirre, dieser Tisch sei einfach zu schmal und die Brille ist in der Wohnung. Das kann ich gut verstehen. Ich kenne es, ich sehe nämlich vieles nahe inzwischen unscharf. Wtf, schmale Tische, die einen kirre machen aufgrund zu früh einsetzender Altersweitsichtigkeit. 


Wir haben etwas überlegt und gerechnet: 90 bis 100 cm ist wohl die optimale Tischbreite für Menschen ab 45. Dann sieht man sein Gegenüber bei normalem Altersabbau noch ohne Brille schön scharf. Also aufgepasst, Ihr Möbeldesigner für hochwertiges Best-Ager-Equipment und Ihr Dating-Café-Betreiber für die zweite Lebenshälfte. So müssen Eure Tische sein.  


Ich selbst bin ja bin konsequenter Lesebrillenverweigerer. Zumindest möchte ich diesen Moment noch etwas hinauszögern. Dafür gibt es doch die Bedienungshilfen des Apple-iOS. Zum Beispiel die extra große Schrift inklusive der netten Bemerkungen wie: „Diese Schrift ist ja wirklich für Blinde.“ Damit haben die Mitmenschen doch gute Möglichkeiten, ein Gespräch anzufangen, ohne übers Wetter reden zu müssen. Falls ich etwas gar nicht mehr scharf erkennen kann, hilft weiterhin die Smartphone-/iPhone-Kamera. Abfotografieren und mit Fingerschnips vergrößern schafft mir eine scharfe Detailsicht. Oder die Kamera einschalten, vorher vergrößern, mit der einen Hand festhalten und mit der anderen machen – und gleichzeitig die Vergrößerung am iPhone-Display betrachten. Mein Tipp für den Fall, dass Sie auch von natürlicher Weitsichtigkeit und nachlassender Sehkraft betroffen sind.


Ok, wenn ich dann über 50 bin, gönne ich mir irgendwann auch eine Lesebrille. Alternativ-rund oder ein – vermutlich eher – ein rahmenloses Modell mit halben Gläsern zum Drüberschauen und der Anmutung von „Ich-bin-ja-Designer-und-besserverdienend“. Aber bis dahin ist es noch lange hin. Vorher gibt es vielleicht heimlich eine Billigversion im Flughafenshop oder Drogeriediscounter.


Ach ja, und jetzt möchten Sie wissen, wie der beste Sushi-Imbiss am Platz heißt? Es ist Hangi Sushi. Gerne gehen wir hier hin, Sushi oder eine scharfe Suppe essen und für mich dazu ein Weizen. Lecker und freundlich ist es hier. Testen Sie es gern. 

 

Brunnenstraße 183

20130707-133013.jpgZU DEN FOTOS

Mehr oder weniger durch Zufall waren Miz Kitty und ich am Freitag im Haus Brunnenstraße 183, dieser von Hausbesetzern bis 2009 besetzten Ruine, deren Sanierung jetzt wohl beginnt, nach einigem Hin- und Herverkauf mit der im Kiez üblichen Wertsteigerung. Das Haus Nummer 183 hat ja eine interessante Geschichte, es war mehr als 20 Jahre besetzt und wurde 2009 mit großer Beachtung gräumt. Von unserer Wohnung am Zionskirchplatz sind es nur gute 300 Meter.

Wir hatten Freitag morgen außer Haus gefrühstückt, da kein Kaffee mehr da war und hatten uns danach den Neubau an der Brunnenstraße angesehen, der von hinten direkt an den Weinbergspark grenzt. Man muss wissen, im Moment sitzen wir öfter im Park und hatten uns letztens noch über diesen Neubau unterhalten. Zufällig ergab es sich, dass die Durchfahrt des auf der anderen Straßenseite der Brunnenstraße gelegenen Hauses Nummer 183 offen war. Das ehemals besetzte Haus. Nun, ich bin seit den Neunzigern hier unterwegs. Ich kenne viele Häuser und Innenhöfe hier im Kiez an der Grenze von Mitte und PrenzlBg. Einerseits, weil mich Abbruchhäuser und Sanierungsobjekte in den damals noch grauen Straßen der Nachwendezeit immer anzogen und andererseits, weil ich ziemlich lange eine geeignete Wohnung suchte. In vielen Häusern bin ich schon gewesen, nicht jedoch im Haus Brunnenstraße 183.

Als ich nun vorgestern sah, dass die Durchfahrt zur Nr. 183 offen stand und die zweite Durchfahrt ebenso – im hinteren Hof war ein Radlader zugange –, sagte ich zu Miz Kitty, ich müsste einmal dieses Grundstück erkunden. Sehr gerne, meinte sie. Sie hat nämlich Ende der 80er Jahre für einige Monate im heute sanierten Nebenhaus gewohnt. Zu der Zeit, als ich noch in Hannover lebte, sie im Weinbergspark für ihre Dramaturgie-Prüfung lernte, die DDR zwar schon kaputt, aber eben noch DDR war und die Vorstellung ziemlich absurd gewesen wäre, dass wir beide in 2013 hier in der Nachbarschaft wohnen und sommerabends im Weinbergspark Champagner trinken.

Wir betraten also das Grundstück und stellten fest, dass der hintere Eingang des Seitenflügels offen war. Vorher hatte ich bereits einige Fotos mit meinem iPad gemacht, das ich zum Frühstücken mitgenommen hatte. So eine Ruine vor der Sanierung, dazu offen begehbar, das ließen wir uns nicht entgehen. Auch die Miz hatte ihre Freude und Neugier. Also nichts wie rein. Ok, sagten wir uns, wenn Bauarbeiter da sind, die uns wieder rausschmeißen, gehen wir halt wieder. Die waren jedoch nur mit ihrem Radlader draußen zugange und so konnten wir uns im lange entwohnten Haus mit seinem ruinösen Zustand ausgiebig umsehen. Ich finde diese Stimmung in solchen Lost Places ja immer sehr schön und etwas kribbelnd. Man arbeitet sich langsam vor, ist neugierig und hat immer ganz ungewohnte und neue Erkenntnisse. Natürlich interessierten uns vor allem Bauweise, Grundrisse und Architektur, wohnen wir doch nicht weit in einem ähnlich alten Haus. Neu waren für uns die fachwerkartigen Innenwände, die früher wohl mit Steinen gefüllt waren. So eine ähnliche Wand scheint eine der Trennwände in unserer Wohnung zu sein, mit schräg verlaufendem Balken darin. Insgesamt ist es so, dass schon vieles entkernt wurde, da überhaupt keine Innentüren und Einbauten mehr vorhanden waren und von den bereits genannten Fachwerk-Innenwänden auch nur noch die Balken stehen. Das sieht man ganz gut auf den Fotos und ist möglicherweise schon bei der Räumung 2009 erfolgt.

Wir haben uns dann eine gute Stunde bis zum Dachboden hochgearbeitet und ich habe einige Fotos gemacht – leider nur mit dem alten iPad2, d.h. niedrig aufgelöst und etwas unscharf. Zwischenzeitlich gabs dann auch noch ein Stück DDR-Zeitung zu studieren, das an einem Balken klemmte. Von 1976, mit Anzeigen, in denen der Wartburg 311 für 6000 Mark angeboten wird, Privatdarlehen gesucht werden und Schulabgängern der Job des Textilreinigers in der Komplexannahmestelle angetragen wird. Miz Kitty hatten es übrigens die Buchendielen angetan, die zum Teil noch vorhanden sind. Unverwüstlich und mit dem Anstrich der dunkelroten Ochsenblut-Farbe aus alten Zeiten. Gut, könnten wir mit dem Eigentümer Kontakt aufnehmen und damit vielleicht unsere knarrenden Dielen aus DDR-Zeiten gegen einen Obolus ersetzen? Könnten wir nicht: Die, die noch da sind, sind zu kurz, die anderen sind längst abgebaut.

So wurde der Freitag zu einem richtigen Urlaubstag, mit dem besten und einmaligen Erlebniswert – 300 Meter von zu Haus. Klar, ich hätte einmal kurz nach Hause gehen können und die große Kamera holen. Das war mir dann doch etwas zu aufwendig, denn die Lost Places wiederholen sich auch irgendwann.

Wer sehen möchte, wie die Brunnenstraße 183 zur Zeit innen aussieht, schaut sich ▸hier meine FOTOS an. Weitere Infos zu diesem Haus, seiner Geschichte und den aktuellen Sanierungsplänen gibt es via Google ▸hier.

Ach ja, sehr gespannt bin ich natürlich, wie das Luxusobjekt in drei Jahren aussieht und wieviel TDE für den Quadratmeter gezahlt werden.