Spazieren und fotografieren in Wismar
Wie die Stammleser dieses Blogs wissen, weilte Miss Kitty in den letzten Wochen in Norddeutschland, um sich bei der besten und wohl ältesten Freundin ihrer Nadel- und Fadenkunst zu widmen. An den Wochenenden war ich ein paarmal dort, in der Nähe der Ostsee, gute 20 km von der alten Hansestadt Wismar entfernt. Am letzten Samstagnachmittag war dort ein privater Frauen-Kleidertausch angesagt. Ein Treffen der Damen der Umgebung zwecks Tausch von überzähligen Kleidungsstücken, wie sie Damen ja manchmal haben. Als einziger Mann, zudem noch mit Miz Kitty verheiratet, fühlte ich mich etwas deplatziert in dieser Runde und nahm vorher Reißaus Richtung Wismar. Stadterkundung, Fotografieren. Das hatte ich mir schon die ganze Woche für den Samstag vorgenommen. In der Hansestadt war ich schon öfter, einen ausführlichen Stadtrundgang hatte ich jedoch hier noch nie gemacht. Leider spielte das Wetter nicht so mit, wie ich es gerne gehabt hätte. Bedeckt war es, mit sehr mäßigem und eigentlich ungeeignetem Licht für eine Foto-Tour. Eine komplette Speicherkarte habe ich trotzdem voll gemacht. 278 Fotos. Klar, wenn man jedes Motiv dreimal fotografiert…
Ich begann also, die morbiden Speicher im Hafen zu erkunden. Stillgelegte Industriebrachen von gewaltiger Größe, unweit des Hafenanlegers. Lost-Places-Charme am Samstagnachmittag. Leider gibt es keine legale Chance, in diese Gebäude hinein zu schauen. Also habe ich nur von außen Fotos gemacht. Durch das Wassertor wechselte ich in die nahezu komplett erhaltene Innenstadt Wismars mit ihrem schmalen Stadthäusern aus spätmittelalterlicher, barocker oder klassizistischer Zeit. »Townhouses« würde man neudeutsch-gentrifiziert dazu sagen. Nicht eines, sondern viele habe ich davon fotografiert. Fein restaurierte Stadthäuser, einige gerade im Rekonstruktionsprozess und ein paar Sanierungsfälle. Wer so ein Townhouse haben möchte und sich nicht vor Denkmalschutzauflagen und Investitionen scheut, in Wismar gibt es noch einige, und die sind dazu echt alt. Im Zusammenhang mit diesen Häusern gibt es ein sehr interessantes Internet-Angebot der Hochschule Wismar. Dort sind ⟶Hausbiografien einer ganzen Reihe dieser Jahrhunderte alten Stadthäuser zusammengetragen. Oft geht die Historie bis in die Zeit um 1600 oder noch früher zurück.
Tittentaster
In Wismar gibt es eine Straße, die Tittentaster Straße heißt, direkt neben dem Hotel Stadt Hamburg. Eine Straße ist es nicht unbedingt, eher ein breiter Gang oder eine Passage. Unbedeutend, unspektakulär, nur das Straßenschild macht neugierig und ist wohl auch absichtlich sehr präsent angebracht. Natürlich habe ich das Straßenschild fotografiert. Nicht einmal, weil ich diesen Begriff übermäßig lustig finde, sondern eher, weil er eben zu Wismar gehört. Was hat es auf sich mit dieser Bezeichnung? Fakt ist wohl, dass die Straße beziehungsweise früher der Gang nicht in alten Stadtplänen unter diesem Namen zu finden ist. Internetquellen geben her, es sei dort früher ein so enger Gang gewesen, den man beim Entgegenkommen nicht ohne gegenseitige Körperberührung passieren konnte. Inklusive Titten tasten eben, sofern einem eine Frau entgegen kommt, oder man selbst eine ist. Ob das so stimmt, oder ob diese Straßenbezeichnung ein Konstrukt oder Witz der Neuzeit ist, vermag ich nicht zu beurteilen.
Tote Ratte im Schaufenster
Zum dritten T der Überschrift dieses Beitrags, der toten Ratte im Schaufenster: In der Bohrstraße 6 gibt es ein Haus, das durchaus nach einem Sanierungsfall aussieht. Es ist das kleinere und deutlich ärmer anmutende grünliche Haus, direkt neben dem ⟶gelben Barockhaus Bohrstraße 8. Letzteres wiederum ist das Nachbarhaus des fein herausgeputzten Hotels Alter Speicher (Bohrtraße 10–12). Offensichtlich ist das kleine, grau-grüne Haus nicht mehr bewohnt. Es besitzt ein kleines Schaufenster, so wie es früher oft Einzelhändler und Gewerbetreibende hatten. In der Auslage dieses Schaufensters hat jemand ein paar DDR-Devotionalien zusammengetragen. Unter anderem liegt hier ein angefressenes Brigade-Tagebuch, auf dem eine tote Ratte drapiert ist, die ihre ersten Verwesungserscheinungen schon hinter sich hat. Ekelhaft, gammlig und dreckig, gäbe es nicht die Trennung durch die schützende Schaufensterscheibe. Ein skurriles Stilleben. Ein Hingucker zwischen gut sanierten Barockhäusern. Während ich fotografierte, drückten sich asiatische Touristen an diesem Schaufenster die Nasen platt. Neugierig fragten sie mich, was denn das sei? Eine tote Ratte. Ja, das sehen sie. Sie wollen wissen, um was es hier geht? Ich weiß es auch nicht, ich habe ihnen erklärt, es seien Gegenstände aus realsozialistischer Zeit, und was ein Brigade-Tagebuch ist. Schnell habe ich am Abend herausgefunden, dass es sich um die Bohrstraße 6 handelt. Nichts und gar nichts gibt jedoch das Internet zu diesem Haus mit seinem merkwürdigen Schaufenster her. Vielleicht ist es Frust-Deko von irgendem oder ein ironisches Kunstwerk, eine kurzlebige Temporärerscheinung, die schnell wieder verschwindet, wenn sich Hotelgäste und Touristen ob des Kleinkadavers beschweren? Vielleicht wissen Sie es, was es mit der toten Ratte im Schaufenster auf sich hat? Schreiben Sie es mir.
Die Fotos
▶HIER. Ich habe sie schnell auf dem iPad sortiert, zum Teil etwas aufgehübscht und wie bei allen Fotostrecken in diesem Blog separat gespeichert. Reiseführertauglich sind sie nicht, dazu war das Licht zu ungünstig, ich schrieb es bereits. Aber, ich mache keinen Stadtspaziergang ohne Fotos mitzubringen. — Und falls mein Beitrag Sie jetzt inspiriert zum »Townhouse-Gucken« und fotografieren, dann freut mich das sehr.