Fundstücke mit Geschichte

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Schuhspanner aus dem Schuhhaus Dublon in Erfurt.

Die Sommerreise ist vorbei und neben Fotos habe ich in den letzten Tagen so allerlei sortiert und organisiert. Heute sind ein paar schwarze Halbschuhe dran. Sie müssen von der Natur böhmischer Wanderwege befreit werden und etwas in Form gebracht werden, um dann mit schwarzer Schuhcreme wieder blitzblank und stadtfein zu werden. Für das »in-Form-bringen« griff ich vorhin zielsicher in eine der Ecken dieser Wohnung, in der sich Dinge wie Schuhputzzeug sammeln und holte zwei alte Schuhspanner hervor.

Schuhhaus Dublon, Erfurt steht darauf. Seit der Studentenzeit sind diese beiden Schuhspanner schon in meinem Besitz und ziemlich lange habe ich sie nicht benutzt. Sie kommen aus dem Haushalt meiner Großeltern. Schon als kind hatte ich sie wahrgenommen, eben weil sie anders waren als die anderen Schuhspanner, die ihre Spannung mit einer Spiralfeder erzeugen. Die kommen von Tante A., erzählte meine Großmutter. Es bedurfte also keiner späteren Nachfrage mehr, warum dort »Erfurt« drauf steht, wo meine ganze Familie ja aus Westdeutschland kommt. Über Tante A. – die keine Verwandte, sondern eine Freundin war – hatte meine Großmutter mir nämlich viel erzählt. Die hatte ihren Mann F. in den Kriegsjahren im Luftschutzkeller in Stettin kennengelernt. A. war dort als Luftwaffenhelferin oder ähnliches eingesetzt. Ihr späterer Mann F. kam aus Erfurt, war Jurist, Offizier und nachher Oberregierungsrat. Von ihm kommen also meine Schuhspanner. Freilich, wer den Hang zu Luftschutzkeller-Romantik hat, kann sich vieles ausmalen, wie es damals gewesen sein muss, als es in Stettin zwischen der höheren Tochter und dem Offizier gefunkt hat… Tante A. habe ich noch kennen gelernt, ihr Mann ist schon vor meiner Geburt verstorben. Ein feiner, sensibler Mensch soll er gewesen sein.

Jahrzehnte später kamen die Schuhspanner in meinen Besitz. Ich brauchte am Studienort welche, im Elternhaus lagen sie rum und ich fand diese Art wesentlich besser, als die mit den Spiralfedern. Selten benutzte ich sie, jedoch erinnert mich der Stempel Erfurt immer an Tante A.

Auch als ich studierte, lag Erfurt noch in der DDR und war für ein westdeutsches Kind ohne Familien-Anbindung in den Osten so weit weg wie Breslau oder Moskau. Die Schuhspanner waren eben zwei Gebrauchsgegenstände aus alter Zeit, als Deutschland noch größer war. Dinge, die sich nicht abnutzen, die man selten und doch immer mal wieder braucht und über die man nicht länger nachdenkt.

Vorhin habe ich sie wieder herausgeholt, fotografierte sie schnell und jetzt tun sie ihren Dienst in den Schuhen. Während ich fotografierte, erzählte ich Miz Kitty die Geschichte von A. und F., ihrem Kennenlernen im Stettiner Luftschutzkeller, und dass diese Schuhspanner aus Erfurt kommen. Das musst du unbedingt mal bloggen, diese alten Geschichten, meinte sie. Mach ich, jetzt und hier.

Freilich wollte ich wissen, was aus dem Schuhhaus Dublon geworden ist, dessen Stempel diese beiden Schuhspanner tragen. Hat es die DDR überlebt, vielleicht unter staatlicher Regie oder so? Hat es nicht. Das Schuhhaus gab es schon nicht mehr, als A. und F. sich in Stettin kennenlernten. Die Inhaber waren Juden. Sie wurden später in Auschwitz ermordet. Gelegen war das Schuhhaus Dublon in Erfurt am Anger 46. Der Arbeitskreis »Erfurter GeDenken 1933–1945« initiierte im Jahr 2012 das Aufstellen der achten Erfurter DenkNadel, siehe auch →Denknadeln für Holocaust-Opfer.

Hochinteressant und spannend, was banale Alltagsgegenstände wie diese Schuhspanner an Geschichte vereinen: Persönliche Geschichte, Weltgeschichte, traurige Geschichte. Ein klein wenig werden die Schuhspanner jetzt vom Fundstück zum Gedenkstück. – Und weil sie einfach gut und unkaputtbar sind, werde ich sie wohl noch lange verwenden.

Außerdem: Es gibt sie noch oder wieder, freilich ohne den geschichtlichen Hintergrund meines Paares. Sie wissen schon, dort wo es noch die guten Dinge gibt. Dort heißen sie →Schraubleisten und sind sogar recht preiswert.