Reisen

Nach Diktat verreist

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Der Januar war so etwas wie ein Stress-Monat. Das liegt auch daran, dass wir Weihnachten energiemäßig über unsere Verhältnisse gelebt haben – und ich im speziellen meine Korrektivfunktion als Bremser nicht genug wahrgenommen habe. Rund um Weihnachten zu viel gearbeitet, Wohnung und Weihnachtsbaum, Family, Essen. Alles super entspannt und alle super zufrieden. Nur die Entspannung kommt nicht bei einem selbst an. Miz Kitty nach den Weihnachtstagen erst mal eine Woche krank und ich auf dem Zahnfleisch kriechend. Dann ohne Pause weitergearbeitet und dann gab’s ja auch noch Tschingelingeling, der 31.

So hatten wir uns fest vorgenommen, nach diesem doch stressigen Jahreswechsel jetzt unbedingt ein paar Tage auszuspannen und Urlaub zu machen. Vier Stunden Flug nach Fuerteventura – hin und zurück sind das dann acht Stunden – waren uns zu lang. Dazu brauchen wir eine Unterkunft, wo wir uns dann tatsächlich erholen können, möglichst ohne Urlaubsschwarm oder Pauschaltouristen. Also fahren wir dort hin, wo wir schon öfter waren und →wo wir uns ganz gut erholen können. Vielleicht wieder für ein paar Tage in eine neue Zeitschleife eintauchen. Also Richtung Hirschberg, Niederschlesien, Polen.

Das erste blogfähige Urlaubserlebnis hatten wir gestern gleich auf der Hinfahrt. Einmal im Schlamm stecken bleiben mit dem 25 Jahre alten, aber sehr robusten Automobil aus Sindelfinger Produktion. Ok, wenn man Sonnabends um fünf nichts besseres zu tun hat, als über sumpfige, polnische Feldwege zum Urlaubsdomizil zu fahren… Miz Kitty ließ ihren Charme spielen und fand mit ihren Russisch-Kenntnissen in der Nachbarschaft schnell jemand, der uns mit einem Mitsubishi Pajero wieder aus dem Schlamm rauszog. Eine Stunde Verzögerung und Schuhe, wie zu Zeiten, als Bundeswehr und NVA noch Wehrübungen im Schlamm abhielten, denn wir hatten ja zuerst versucht, das Auto selbst los zu bekommen. Die Schuhe sind inzwischen wieder sauber und brauchen nur noch etwas Schuhcreme und eine kräftige Bürste.

Ansonsten in der Mini-Zeitschleife angekommen. Wechsel zwischen der Badewanne mitten im Zimmer, Pool, Bibliothek, Restaurant. Lassen Sie es sich auch gut gehen. Kaufen Sie weniger Autos und trinken Sie mehr Champagner.

Gesellschaft · Reisen

Pilz & Wald

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Vor zwei Tagen war ich mit →Miz Kitty in Norddeutschland zu Gast. Genauer gesagt, im kleinen →Paradies in der Gegend um →Alt-Meteln. Nun, was macht man in dieser schönen Natur dort? Sich vom Staub der Metropole erholen, sich mental und visuell entschleunigen in Richtung grün, gelb, naturfarben. Entspannt durch Wald und Flur streunen und natürlich… Pilze sammeln im Wald.

Pilze sammeln kann ich zwar, nicht jedoch nur die wohlgenießbaren, kenne ich diese Gewächse nicht per Du. Ich glaube zwar, ich wäre ein ganz guter Pilzsammler, da ich berufsbedingt Details gut und schnell unterscheiden kann. Nur wurde in meiner Familie – schon aus Ängstlichkeitsgründen, man könnte den falschen Pilz erwischen, keine Pilze gesammelt. Und mit Ende vierzig mit Pilzbuch und Pilz-App anzufangen ist aufwendig. Ich halte mich also lieber weiter an das ebenso biologische Pils, hinten mit s, und bei meiner Pilzkenntnis sicher genauso gesund.

Also haben die beiden Damen Miz Kitty und La Primavera gesammelt und ich habe ein paar Fotos gemacht. Pilzfotos und Waldfotos. Die Ästhetik dieser Pilzgewächse ist bei genauem Hinsehen genauso skurril wie sie manchmal mit Affengeschwindigkeit aus dem Boden schießen und sich ausformen. Damit Fotos jetzt nicht in irgendeinem digitalen Festplattenordner verschwinden, habe ich sie zu einem separaten Fotostream zusammengestellt.

ZU DEN FOTOS


 

Reisen

Etage 29
Leipziger Allerlei #4

Am Sonntag abend liefen wir noch einmal zurück Richtung →City-Hochhaus. Das →Haus war einst das höchste Gebäude Europas. Es soll ein aufgeschlagenes Buch symbolisieren und wird manchmal auch Weisheitszahn genannt, so ähnlich wie die Berliner das Bundeskanzleramt zuweilen Waschmaschine nennen. Oben ist ein →Restaurant und eine Aussichtsplattform, von der ich in 2004 schon einige Fotos gemacht habe. Also hoch in die 29. Etage und noch schnell die Speicherkarte füllen, bevor der Zug nach Berlin abfährt. Das Restaurant nehmen wir uns nächstes Mal vor. Es ist ein guter Ort, um auch in kälteren Jahreszeiten über die Stadt zu schauen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Reisen

Otto-Nuschke-Straße
Leipziger Allerlei #3

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Spurensuche in der Ehrensteinstraße
(vormals Otto-Nuschke-Straße)

Im →Mercure Hotel Art schauten wir auf einen Altbau auf der anderen Straßenseite. Ein Mietshaus im Gründerzeitstil, heute ganz schön saniert. Hier in der Gegend muss die Otto-Nuschke-Straße sein, sagte Miz Kitty. Ein Haus, in dem Teile der Familie vor Jahrzehnten einmal lebten. Erkundungsfreudig haben wir am Sonntag Nachmittag schnell herausgefunden, dass diese Straße nach der Wende in ihren alten Namen Ehrensteinstraße erhielt, und dass sie in der Nähe des Leipziger Zoos im Stadtteil Zentrum-Nord liegt – von unserem Hotel gut fußläufig zu erreichen. Vorher ging es zuerst einmal in die andere Richtung zum Frühstücken im →Café Kandler in →Specks Hof. Sehr empfehlenswert, das leckere Frühstück. Hier kann man schön sitzen und die Leute beobachten, wie sie in Specks Hof unterwegs sind. Ich beobachte nacheinander vier Stadtführer, die mit Touristengruppen unterwegs sind. Spannend, diese vier unterschiedlichen Typen, vom älteren Herrn mit Staubmantel bis zur Endzwanzigerin. Leute gucken, sagte eine Hamburger Bekannte früher immer dazu. An Herbst- und Wintertagen könnte ich hier stundenlang sitzen, etwas lesen und immer wieder die Menschen beobachten.

Vom Café Kandler aus dann über den Nordplatz Richtung →Ehrensteinstraße. Die genaue Hausnummer wusste Miz Kitty nicht, wohl aber wo das Haus in etwa liegen müsste. Die Straße wurde Anfang des 20. Jahrhunders angelegt. Hier befinden sich zum Teil großbürgerliche Villen, zum Teil gutbürgerliche Mietshäuser und dazu etwas Reihenbebauung der 60er. Vom Baustil her kann man die Straße klar erkennbar in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg und bis ca. 1920 einordnen. Architektenhäuser, jedes eigen. Ich merke diesen Häusern teilweise schon den Geist der 20er Jahre an, weg von Prunk und übermäßiger Großzügigkeit, hin zur sachlichen Kompaktheit. Jedoch sind sie ausgeführt mit den architektonischen Elementen der späten Gründerzeit. Die Ehrensteinstraße wurde 1963 in Otto-Nuschke-Straße umbenannt und erhielt 1992 ihren alten Namen Ehrensteinstraße zurück. Insgesamt eine noble Gegend. Die besseren Häuser sind heute fast alle schön saniert und die Lücken durch Neubauten geschlossen, zwei gerade in Bau. Gentrifizierung à la Leipzig. Ich mag ja diese Viertel mit schönen Altbauten, und wenn ich in nach Leipzig ziehen würde, wäre dieses zentrumsnahe Quartier eine Wohnungssuche wert.

Zuerst liefen wir die Ehrensteinstraße nach Norden, wobei schnell klar war, dass es die falsche Richtung ist, um das gesuchte Haus zu finden. Trotzdem gingen wir weiter, der weil wir ja gerne Straßen, Häuser und Höfe erkunden. Immer etwas mit dem Hintergedanken, vielleicht doch noch ein entwohntes Haus zu finden, das gerade rekonstruiert wird und offen ist, wo wir Fotos und Studien machen können, wie man hier in vergangenen Zeiten gelebt hat. Die kurze Verlängerung der Ehrensteinstraße über die Georg-Schumann-Straße – von der man das Gerippe eines Gasometers sehen kann – ist die Mechlerstraße. Laut →leipzig-lexikon.de gibt es sie seit 1891. Sie ist etwas älter als die Ehrensteinstraße, was man an den Häusern auch deutlich merkt. Mietshäuser der Gründerzeit in Blockbebauung, mit der typischen Durchfahrt zum Hof. Heute bewohnbar bis gut saniert. Das Haus Mechlerstraße 4 ist leer und die morbide Tür offen, das Grundstück Mechlerstraße 6 verwildert und zugänglich, mit einer bröckeligen Werkstatt oder Halle darauf, auf die man eigentümliche Lichthauben aufgesetzt hat, die wie kleine Garagen oder Wintergärten anmuten. Schon etwas skurril. Nach ein paar – ok, zugegeben ein paar mehr – Fotos gehen wir weiter. Eine Frau mit Kittelschürze aus dem Haus gegenüber beobachtet uns. Ein bemerkenswertes Kleidungsstück hat sie an, das es sowohl in Ost und West gab, und das beiderorts die Vereinigung nicht mehr lange überstanden hat. Wir lassen uns von neugierig schauenden Blockwarten nicht beeinflussen und treten durch die offene Tür der Nummer 4 in den Durchgang zum Hof. Die Tür lässt sich nur etwa 50 cm öffnen, da ein alter Kühlschrank als Sperre dienen soll. Innen liegt Abbruchmaterial, und es gibt eine fast zwanghaft ordentlich aufgereihte Sammlung aus Weinflaschen. Aha, ein akkurater Mensch räumt hier also auf. Auf der Hofseite des Durchgangs ist ein Baum fast in die Hauswand gewachsen. Der Garten ist verwildert, was ja schon vom Nachbargrundstück zu sehen war. Das war dann auch schon unsere Erkundung in der Mechlerstraße. Das Haus ist hinten verschlossen, so wie es sich für eine gute Baustelle gehört. Also keine weiteren Erkenntnisse über Wohnungsgrößen, Innenausbauten, DDR-Hinterlassenschaften und was man sonst noch in leeren Altbauten vor der Sanierung und Rekonstruktion findet. Als wir wieder auf die Straße treten, beobachtet uns IM Kittelschürze immer noch.

Zurück durch die Ehrensteinstraße nach Süden in Richtung City finden wir das gesuchte Haus. Ein freistehendes, großbürgerliches Mehrfamilienhaus aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Vermutlich einst von vermögenden Menschen gebaut, gibt es hier heute Kanzleien, Büros und Wohnungen, vermutlich mit nach heutigen Verhältnissen genauso vermögenden Menschen darin. Miz Kitty erinnert sich schwach an das Treppenhaus, das man durch die Eingangstür etwas sehen kann.

Spurensuche in der Otto-Nuschke-Straße. Spur gefunden.

Gesellschaft · Reisen

Nach Madeira, oder zu den Kanaren

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Mit dem Reisebuch anno 1928 – Hier als epub

Beim Wiener Schnitzel entstehen ja bekanntlich nicht nur gute Ideen, sondern auf dem Weg dahin gibt es manchmal auch einiges Inspirierendes. So fand ich letztens, als wir auf dem Weg ins Alt Wien waren, eine Kiste mit Büchern, die nette Menschen so vor die Tür stellen, damit die Bücher vielleicht noch einen Liebhaber finden. In dieser Kiste fand ich neben einigen eher uninteressanten Taschenbüchern einen Reiseführer von 1928. »Führer für Mittelmeerfahrten, nach Madeira und zu den Kanarischen Inseln« steht auf dem Buch.

Solche Bücher habe ich früher gesammelt, baue im Moment jedoch meinen Fundus immer mehr ab. Nun, das Herz siegte an diesem Abend. Ich nahm das Reisebuch mit. Sehr interessant, auch die Anzeigen im hinteren Teil des Buches. Madeira und die Kanaren mit ihren Hotels und Etablissements in längst vergangener Epoche. Als Flugreisen und Massentourismus noch unbekannte Worte waren und der Besuch dieser schönen Inseln fast nur Besserverdienenden und Wohlhabenden vorbehalten war.

Herausgegeben wurde das Reisebuch von der Woermann-Line und der Deutschen Ostafrika-Linie. Klar, nach Madeira und auf die Kanaren reiste man damals per Schiff. Und so gibt es in dem Buch ganz selbstverständlich einige Informationen zu den Hafenstädten, die zwar weitab von Mittelmeer und Kanaren sind, in denen man aber auf dem Weg dorthin Station machte. Rotterdam, Lissabon und auch Southampton, um nur die größeren zu nennen.

ZEITREISE 1928

Natürlich frage ich mich immer bei so alten und gut benutzen Büchern, wer sie besessen und benutzt hat, wer es war, der die handschriftlichen Anmerkungen einst gemacht hat. Wie war er unterwegs, und in welcher Mission? Ein wohlhabender Privatier, ein Kaufmann, der in der Ferne Geschäfte macht? Spekulationen, aus denen ich mir Geschichten zusammenspinnen kann. Zeitreise 1928. Dampfer fuhr man damals, und die großen Passagierdampfer hatten Personal und Unterhaltungsangebot, das heute manch‘ Kreuzfahrer relativiert (das brauchte man auch z.B. bei einer Atlantiküberquerung, damit die Fahrgäste genügend Kurzweil hatten, bei 10 Tagen nur Wasser).

Damit Sie mitkommen können auf diese Zeitreise ins jahr 1928, habe ich Ihnen ein eBook von diesem Reisebuch gemacht. Ein sogenanntes »fixed-layout-ebook«. Im epub Format, das sehr schön zum Lesen mit dem iPad geeignet ist. Probieren Sie es aus. Öffnen Sie das Reisebuch in iBooks, blättern Sie, lesen Sie, schauen Sie Anzeigen aus alter Zeit… Und falls Ihr Reader nicht mit fixed-layout-ebooks kann, dann gibt es noch ein PDF.

» zum eBook (fixed-layout-epub, optimiert für iPad)
» zum PDF

SATZ UND TYPO, ANNO 1928

Bei der Produktion des eBooks habe ich mich entschieden, direkt die Scans der Seiten zu verwenden. Damit sind die Seiten 1:1 wie im Original abgebildet, bis auf die letzte Pore im Papier. Typo, Schriftsatz, Lesbarkeit, alles anno 1928. Buchdruck, Bleisatz. Mit den Schriften, die man als Druckerei hatte, und Papier sparend. Sie werden mir zustimmen, dass heute jedes Buch und jedes klassische eBook im floated-layout-Stil besser lesbar ist. Bücher waren damals teuer. Es gab nicht soo viele und man hatte nicht soo viele davon. Man konnte langsamer lesen – und musste dieses ob der Typo oft sowieso – und las damit auch bewusster.

PS: Das eBook, in dem eine Reise nach Südamerika anno 1924 beschrieben ist, und das ich vor eniger Zeit schon vorgestellt hatte, gibt es hier im epub– oder hier im mobi-Format zum Download.

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Gesellschaft · Reisen

Rosenhofstraße,
im Arme-Leute-Viertel hinterm Schlachthof

Aus der Reihe: Wo ich schon mal wohnte

NACH HAMBURG

Anfang der 90er zog ich nach Hamburg. In Hannover habe ich studiert, die Liebe und erste längere Beziehung erlebt, und es war die erste Stadt überhaupt, in der ich lebte, aufgewachsen im Nirvana an einer Fernbundesstraße zwischen zwei Provinz-Städten. Das Studium war beendet, die Paarbeziehung mit gemeinsamer Wohnung ebenso. Einen festen Job hatte ich nicht, konnte jedoch ganz gut leben von meinen zwei bis drei freien Jobs und hatte zudem noch ein Aufbaustudium begonnen. Durch ein kurzes Intermezzo in Rom hatte ich erlebt, was wirklich eine ‚Stadt‘ ausmacht. Seitdem ziehen mich große Städte an.

Hannover, das war ein erweitertes Bielefeld, vielleicht sogar schlimmer. Dort, wo die Leute das sauberste Hochdeutsch sprechen und am spießigsten sind. Keine Perspektive für mich, hier zu leben, zumal es noch einige tiefgreifende Negativerfahrungen in dieser Stadt gab. Aufbruchsstimmung. Wohin? Andere zogen ihren ersten Jobs hinterher, ich zog nach Hamburg. 150 km von Hannover entfernt, 150 km weiterer gesunder Abstand zum Elternhaus. Das Tor zur Welt. Für mich. Da könnte ich doch erst mal meine Jobs in Hannover weiter machen, und ein- bis zweimal in der Woche hinfahren. Das Aufbaustudium könnte ich in Hamburg abschließen, dort wurde es auch angeboten. Nun, manches kam anders, aber immerhin ein guter Plan.

Von Hamburg bin ich heute nach vielen Jahren Berlin immer noch sehr angetan. Und wenn es nicht das zugegebenermaßen große Problem der Pendantfindung gegeben hätte, würde ich sicher heute noch meinen Lebensmittelpunkt dort haben. Darüber schrieb ich ja schon.

In Hamburg hatte ich genau zwei Kontakte. Eine Dozentin aus meinem Studium wohnte hier und von meiner Ex-Freundin eine Cousine. Mein Ziel war, unbedingt zentral zu wohnen, möglichst in einem Szene-Kiez, bloß nicht irgendwo außerhalb. Schanzenviertel, Eimsbüttel, Altona hatte ich mir in den Kopf gesetzt. Das erschienen mir die idealen Stadtteile. Studentisch, links, alternativ, kritisch, antibürgerlich, eben damals zu meinem Lebensgefühl passend. Relativ schnell fand ich eine kleine und bezahlbare Wohnung in der Rosenhofstraße, ziemlich mittendrin im Schanzenviertel.

SCHANZE

Das Schanzenviertel, umgangssprachlich auch einfach ‚die Schanze‘ genannt, ist der Bereich rechts und links der Straße Schulterblatt. Einerseits begrenzt durch Neuen Pferdemarkt und Altonaer Straße, in anderer Richtung durch Schanzenstraße und Stresemannstraße. Vielleicht gehört die Sternstraße jenseits der Schanzenstraße auch noch dazu. Dieses Viertel gehört verwaltungsmäßig zu St.Pauli, ein offiziellerer Name ist St.Pauli-Nord. Die Bezeichnung Schanzenviertel ist durch die Sternschanze begründet und existiert eigentlich erst seit den 80ern. Früher war dieses Quartier als Arme-Leute-Viertel hinterm Schlachthof bekannt. Gründerzeitliche Bebauung, im Lauf der Jahrzehnte heruntergekommen. Dazwischen ein paar Bombenlücken mit 50er- und 60er-Jahre-Häusern aus dem Wiederaufbauprogramm. Rote Hartbrandziegel-Fassaden.

Arme Leute wohnten hier immer noch, Anfang der 90er. Jetzt eben Studenten, Alternative, Migranten. Dazwischen sozial schlechter situierte ohne Selbstverwirklichungs-Anspruch. Dann noch Rentner, meist klassische Arbeiterschicht, seit Kriegsende hier im Kiez. Mittendrin im Viertel die Rote Flora mit Punks, Linken, Aktivisten und ab und zu Konzerten.

ROSENHOFSTRASSE

Ich zog also in die Rosenhofstraße, eine kurze Kniestraße, mit schönem Namen und literarisch bereits bearbeitet. Sie biegt von der Susannenstraße ab, ziemlich genau in der Mitte zwischen Schulterblatt und Bartelsstraße, und kommt kurz vor der Bahnunterführung auf’s Schulterblatt raus.

Wenn Sie von der Susannenstraße in die Rosenhofstraße einbiegen, gibt es auf der rechten Seite einige Häuser aus der Nachkriegszeit mit roter Backsteinfassade. In einem davon lag meine Wohnung. Gründerzeit-Altbau wäre mir lieber gewesen, vielleicht eines der Häuser gegenüber, mit hohen Räumen, studentischem Umfeld, großen Zimmern. Statt dessen eine Wohnung in einem Wiederaufbauprogramm-Haus. 1953 gebaut, eines der frühen, schlechteren also. Schlichtes, enges Treppenhaus, kleine Zimmer, niedrige Decken, dünne Wände. Den ersten Nachbarn, Generation 75-plus, lernte ich schon am Tag der Wohnungsbesichtigung kennen. Herr M., der Geist vom Alter etwas mitgenommen. In besseren Zeiten war er Versicherungs-Vertreter gewesen. Wenn die alle so sind? Aber ich wollte diese Wohnung. Es gab im Moment keine bezahlbare Alternative. Im Viertel würde ich schon Leute kennen lernen, und außerdem war die Wohnung sehr schön zentral. Auch andere Bekanntschaften würden schnell vorbei kommen. Ich mietete diese Wohnung.

Eingezogen, stellte ich fest, dass außer einer jungen Frau mit ihrer kleinen Tochter alle Nachbarn der Generation von Herrn M. angehörten, Tendenz älter. Frau R., Frau Ch., Herr und Frau H., Herr und Frau S. und eben Herr M. Sie alle wohnten schon dort, seitdem das Haus gebaut war oder waren kurz danach eingezogen, so in den Jahren bis 1955. Herr M. war von dieser Belegschaft übrigens als letzter eingezogen, 1959. Ich war damals gut Mitte 20 und ein technisch versierter, schüchterner Nerd. Smalltalk und Nachbarn anzusprechen habe ich erst viel später gelernt. Was sollte ich mich mit dieser Rentner-Riege auch unterhalten? Ich war jung. Waren das nicht alles Erwachsene mit Wertvorstellungen von vorgestern, in denen ich junger Hüpfer eh nichts galt? Alt und unlustig und vom Leben gezeichnet? Noch schlimmer wie die 50-plus und 60-plus Nachbarn aus den zwei Hannoverschen Häusern, in denen ich mich nie richtig wohl gefühlt hatte. Schöne Aussichten.

HAUSGEMEINSCHAFT

Nun, der Kontakt kam zu mir. Frau R. aus dem Erdgeschoss lauerte mir auf, um mir zu sagen, dass die Frau K. hier die Treppe macht. Kostet 10 Mark im Monat, und da beteiligen sich alle. Aha. Etwas überrumpelt, stimme ich schüchtern-willig zu, und sie gibt mir die Kontonummer von Frau K. Am besten immer 30 Mark für’s Vierteljahr im voraus überweisen. Das machen alle so.

Ok, Treppenfrau, warum nicht. Das kannte ich aus Hannover nicht. Dort wurde die Treppe abwechselnd selbst gewienert, was dann mit Unterschriftenkärtchen oder einem anderem Kontrollsystem gesteuert wurde. Natürlich nicht, ohne anderen Bewohnern die eigenen Vorstellungen der Treppenreinigung geringschätzig kund zu tun. Gut, dieses gab es in Hamburg also nicht (in Berlin übrigens auch nicht). Frau K., die Treppenfrau, war schon kurz vor 70 und verdiente sich wohl etwas hinzu. Zudem hatte Sie Asthma und rückte ab und zu Samstag nachmittags heftig schnappatmend mit Wischeimer und Feudel an.

HAUSPARTIES

In den ersten Monaten wurde ich dann von den alten Herrschaften quasi in die Hausgemeinschaft adoptiert. Da sich alle ja schon seit Jahrzehnten kannten, wurde regelmäßig und ausgiebig gefeiert, meist Geburtstage, manchmal auch anderes. Genauso regelmäßig wurde der »junge Mann von oben« auch dazu eingeladen.

Das Szenario war immer ähnlich. Alle versammelten sich im kleinen Wohnzimmer der Gastgeberwohnung. Schnittchen, Zigaretten, und nicht gespart an Alkohol. Zwar krank und gebrechlich, aber lustig und lebensfroh, diese Rentner-Crew. So ganz anders als ich das aus meiner Familie und von den weit jüngeren Nachbarn aus den Hannoverschen Häusern kannte. Ganz ohne diese enge »Was denken die Nachbarn«-Attitüde und ohne geringschätzige »das tut man doch nicht«-Blicke. Immer schön waren sie, diese Feiern. Auch, wenn ich mal nach Hause kam und schon im Treppenhaus abgefangen wurde, weil in irgendeiner Wohnung gerade wieder Sekt getrunken wurde und auf etwas angestoßen wurde.

Manchmal gab es dann schon herrlich lustig-skurrile Situationen. Frau Ch. war die älteste im Haus, jedoch noch recht gut beisammen. Schlank und rank, immer mit dunkelblauem oder beigem Mantel unterwegs mit energisch-lautem Ton, der wohl nicht nur auf Schwerhörigkeit beruhte. Seit 1953 in der Rosenhofstraße, gleich nach dem Bau des Hauses eingezogen. Wir feierten ihren 95. Geburtstag. Das übliche Spektakel. Alle in der kleinen Wohnung, Nachbarn und Familie. Und damit denn auch wirklich alle dabei sind, wird mit der großen Video-Vorführung extra noch gewartet. Bei Sekt und Schnittchen schauen wir uns dann ein vollkommen verrauschtes Video mit altersgerechter Lautstärke an, in dem Klaus von Dohnanyi der Jubilarin zum 80. Geburtstag gratuliert. Das war 15 Jahre zuvor. Frau Ch. kommentiert derweil. Sie war früher politisch aktiv. Links, natürlich für die Arbeiter. Lassen Sie mal Maria Furtwängler 95, schmal, grau, dünnhaarig werden. Dann haben Sie ein Bild im Frau Ch.

Direkt unter mir wohnten Herr und Frau S., beide etwas jünger als Frau Ch. Sehr ruhige Menschen, im Gegensatz zu Frau Ch. nicht unbedingt kontaktfreudig. Altersgemäß immer langsam unterwegs, oft zusammen. Wahrscheinlich hatte Herr S seine regelmäßigen Einkaufsgänge, ich sah ihn oft die Rosenhofstraße einbiegen. Stets trug er einen Stoff-Einkaufsbeutel und eine schwarze Elbsegler-Mütze mit lackglänzendem Schirm. Diese Mützen trug man früher auch im Hafen, in den 90ern sah man sie hingegen nur noch selten, zumindest mit dem glänzenden Schirm. Vorm Krieg war Herr S. zur See gefahren, später dann als Arbeiter beschäftigt gewesen. An seinem 90. Geburtstag wieder das gleiche Schauspiel, diesesmal Sonntags ab 11. Alle im kleinen Wohnzimmer, dazu noch die Familie. Schnittchen, Zigraretten, Sekt. Der jüngste Sohn war noch in der Wohnung aufgewachsen. Und der Herr S., anfangs noch so schüchtern-verlegen, als ich ihm ein Geschenk überreichte, hatte einen Zug, das glaubt man nicht. Ein Sektchen und noch eins und noch eins und so weiter. Richtig gesprächig wurde der im Lauf des Nachmittags, erzählte aus alten Zeiten, von seinen Mädchen, etc. Leider starb er ein oder zwei Jahre nach seinem 90. Wenn ich alte Bilder aus dem Hafen mit Arbeitern betrachte, muss ich oft an Herrn S. denken, der Schirm-Mütze mit dem glänzenden Schirm wegen.

AUSZUG

Aufgegeben habe ich die Wohnung in der Rosenhofstraße, als mir der schlechte Zustand mehr und mehr zuwider wurde und die Miete stieg. Zudem war der Mietvertrag moderat formuliert etwas ungünstig und der Vermieter mir nicht so angenehm. Zu der Zeit war das Haus im Wandel. Die Gemeinschaft löste sich langsam auf. Herr M., der Ex-Versicherungsvertreter, war ein Jahr zuvor ausgezogen, stark dement, er konnte nicht bleiben. Frau S.‘ Umzug war nach dem Tod ihres Mannes in Vorbereitung, Frau Ch. ging langsam auf die 100 zu. Ich zog also aus.

Im Schanzenviertel war ich danach noch sehr oft. Nicht mehr jedoch im Haus in der Rosenhofstraße. Ungefähr drei Jahre später habe ich am Klingelschild geschaut. Ich wollte wissen, wer dort noch wohnt. Nur noch den Namen von Herrn und Frau H. fand ich. Beide hatten jedoch immer wieder erzählt, ihr Sohn möchte diese Wohnung unbedingt behalten, und deshalb gäben sie sie schon nicht auf. So wird dieser Name wohl noch lange auf dem Klingelschild bleiben.

Das war’s gewesen mit der Hausgemeinschaft an der Rosenhofstraße. Und mit meiner Wohnung in diesem Viertel. Der Kiez passte damals. Ich war glücklich dort. Müsste ich nach Hamburg ziehen, würde ich nicht wieder ins Schanzenviertel ziehen. Der Kiez hat sich spürbar verändert. Ich auch, noch mehr. Ich glaub‘, ich würd’s jetzt in Winterhude oder Eppendorf versuchen.

Gesellschaft · Reisen

Rosenhofstraße, im Arme-Leute-Viertel hinterm Schlachthof

Aus der Reihe: Wo ich schon mal wohnte

NACH HAMBURG

Anfang der 90er zog ich nach Hamburg. In Hannover habe ich studiert, die Liebe und erste längere Beziehung erlebt, und es war die erste Stadt überhaupt, in der ich lebte, aufgewachsen im Nirvana an einer Fernbundesstraße zwischen zwei Provinz-Städten. Das Studium war beendet, die Paarbeziehung mit gemeinsamer Wohnung ebenso. Einen festen Job hatte ich nicht, konnte jedoch ganz gut leben von meinen zwei bis drei freien Jobs und hatte zudem noch ein Aufbaustudium begonnen. Durch ein kurzes Intermezzo in Rom hatte ich erlebt, was wirklich eine ‚Stadt‘ ausmacht. Seitdem ziehen mich große Städte an.

Hannover, das war ein erweitertes Bielefeld, vielleicht sogar schlimmer. Dort, wo die Leute das sauberste Hochdeutsch sprechen und am spießigsten sind. Keine Perspektive für mich, hier zu leben, zumal es noch einige tiefgreifende Negativerfahrungen in dieser Stadt gab. Aufbruchsstimmung. Wohin? Andere zogen ihren ersten Jobs hinterher, ich zog nach Hamburg. 150 km von Hannover entfernt, 150 km weiterer gesunder Abstand zum Elternhaus. Das Tor zur Welt. Für mich. Da könnte ich doch erst mal meine Jobs in Hannover weiter machen, und ein- bis zweimal in der Woche hinfahren. Das Aufbaustudium könnte ich in Hamburg abschließen, dort wurde es auch angeboten. Nun, manches kam anders, aber immerhin ein guter Plan.

Von Hamburg bin ich heute nach vielen Jahren Berlin immer noch sehr angetan. Und wenn es nicht das zugegebenermaßen große Problem der Pendantfindung gegeben hätte, würde ich sicher heute noch meinen Lebensmittelpunkt dort haben. Darüber schrieb ich ja schon.

In Hamburg hatte ich genau zwei Kontakte. Eine Dozentin aus meinem Studium wohnte hier und von meiner Ex-Freundin eine Cousine. Mein Ziel war, unbedingt zentral zu wohnen, möglichst in einem Szene-Kiez, bloß nicht irgendwo außerhalb. Schanzenviertel, Eimsbüttel, Altona hatte ich mir in den Kopf gesetzt. Das erschienen mir die idealen Stadtteile. Studentisch, links, alternativ, kritisch, antibürgerlich, eben damals zu meinem Lebensgefühl passend. Relativ schnell fand ich eine kleine und bezahlbare Wohnung in der Rosenhofstraße, ziemlich mittendrin im Schanzenviertel.

SCHANZE

Das Schanzenviertel, umgangssprachlich auch einfach ‚die Schanze‘ genannt, ist der Bereich rechts und links der Straße Schulterblatt. Einerseits begrenzt durch Neuen Pferdemarkt und Altonaer Straße, in anderer Richtung durch Schanzenstraße und Stresemannstraße. Vielleicht gehört die Sternstraße jenseits der Schanzenstraße auch noch dazu. Dieses Viertel gehört verwaltungsmäßig zu St.Pauli, ein offiziellerer Name ist St.Pauli-Nord. Die Bezeichnung Schanzenviertel ist durch die Sternschanze begründet und existiert eigentlich erst seit den 80ern. Früher war dieses Quartier als Arme-Leute-Viertel hinterm Schlachthof bekannt. Gründerzeitliche Bebauung, im Lauf der Jahrzehnte heruntergekommen. Dazwischen ein paar Bombenlücken mit 50er- und 60er-Jahre-Häusern aus dem Wiederaufbauprogramm. Rote Hartbrandziegel-Fassaden.

Arme Leute wohnten hier immer noch, Anfang der 90er. Jetzt eben Studenten, Alternative, Migranten. Dazwischen sozial schlechter situierte ohne Selbstverwirklichungs-Anspruch. Dann noch Rentner, meist klassische Arbeiterschicht, seit Kriegsende hier im Kiez. Mittendrin im Viertel die Rote Flora mit Punks, Linken, Aktivisten und ab und zu Konzerten.

ROSENHOFSTRASSE

Ich zog also in die Rosenhofstraße, eine kurze Kniestraße, mit schönem Namen und literarisch bereits bearbeitet. Sie biegt von der Susannenstraße ab, ziemlich genau in der Mitte zwischen Schulterblatt und Bartelsstraße, und kommt kurz vor der Bahnunterführung auf’s Schulterblatt raus.

Wenn Sie von der Susannenstraße in die Rosenhofstraße einbiegen, gibt es auf der rechten Seite einige Häuser aus der Nachkriegszeit mit roter Backsteinfassade. In einem davon lag meine Wohnung. Gründerzeit-Altbau wäre mir lieber gewesen, vielleicht eines der Häuser gegenüber, mit hohen Räumen, studentischem Umfeld, großen Zimmern. Statt dessen eine Wohnung in einem Wiederaufbauprogramm-Haus. 1953 gebaut, eines der frühen, schlechteren also. Schlichtes, enges Treppenhaus, kleine Zimmer, niedrige Decken, dünne Wände. Den ersten Nachbarn, Generation 75-plus, lernte ich schon am Tag der Wohnungsbesichtigung kennen. Herr M., der Geist vom Alter etwas mitgenommen. In besseren Zeiten war er Versicherungs-Vertreter gewesen. Wenn die alle so sind? Aber ich wollte diese Wohnung. Es gab im Moment keine bezahlbare Alternative. Im Viertel würde ich schon Leute kennen lernen, und außerdem war die Wohnung sehr schön zentral. Auch andere Bekanntschaften würden schnell vorbei kommen. Ich mietete diese Wohnung.

Eingezogen, stellte ich fest, dass außer einer jungen Frau mit ihrer kleinen Tochter alle Nachbarn der Generation von Herrn M. angehörten, Tendenz älter. Frau R., Frau Ch., Herr und Frau H., Herr und Frau S. und eben Herr M. Sie alle wohnten schon dort, seitdem das Haus gebaut war oder waren kurz danach eingezogen, so in den Jahren bis 1955. Herr M. war von dieser Belegschaft übrigens als letzter eingezogen, 1959. Ich war damals gut Mitte 20 und ein technisch versierter, schüchterner Nerd. Smalltalk und Nachbarn anzusprechen habe ich erst viel später gelernt. Was sollte ich mich mit dieser Rentner-Riege auch unterhalten? Ich war jung. Waren das nicht alles Erwachsene mit Wertvorstellungen von vorgestern, in denen ich junger Hüpfer eh nichts galt? Alt und unlustig und vom Leben gezeichnet? Noch schlimmer wie die 50-plus und 60-plus Nachbarn aus den zwei Hannoverschen Häusern, in denen ich mich nie richtig wohl gefühlt hatte. Schöne Aussichten.

HAUSGEMEINSCHAFT

Nun, der Kontakt kam zu mir. Frau R. aus dem Erdgeschoss lauerte mir auf, um mir zu sagen, dass die Frau K. hier die Treppe macht. Kostet 10 Mark im Monat, und da beteiligen sich alle. Aha. Etwas überrumpelt, stimme ich schüchtern-willig zu, und sie gibt mir die Kontonummer von Frau K. Am besten immer 30 Mark für’s Vierteljahr im voraus überweisen. Das machen alle so.

Ok, Treppenfrau, warum nicht. Das kannte ich aus Hannover nicht. Dort wurde die Treppe abwechselnd selbst gewienert, was dann mit Unterschriftenkärtchen oder einem anderem Kontrollsystem gesteuert wurde. Natürlich nicht, ohne anderen Bewohnern die eigenen Vorstellungen der Treppenreinigung geringschätzig kund zu tun. Gut, dieses gab es in Hamburg also nicht (in Berlin übrigens auch nicht). Frau K., die Treppenfrau, war schon kurz vor 70 und verdiente sich wohl etwas hinzu. Zudem hatte Sie Asthma und rückte ab und zu Samstag nachmittags heftig schnappatmend mit Wischeimer und Feudel an.

HAUSPARTIES

In den ersten Monaten wurde ich dann von den alten Herrschaften quasi in die Hausgemeinschaft adoptiert. Da sich alle ja schon seit Jahrzehnten kannten, wurde regelmäßig und ausgiebig gefeiert, meist Geburtstage, manchmal auch anderes. Genauso regelmäßig wurde der »junge Mann von oben« auch dazu eingeladen.

Das Szenario war immer ähnlich. Alle versammelten sich im kleinen Wohnzimmer der Gastgeberwohnung. Schnittchen, Zigaretten, und nicht gespart an Alkohol. Zwar krank und gebrechlich, aber lustig und lebensfroh, diese Rentner-Crew. So ganz anders als ich das aus meiner Familie und von den weit jüngeren Nachbarn aus den Hannoverschen Häusern kannte. Ganz ohne diese enge »Was denken die Nachbarn«-Attitüde und ohne geringschätzige »das tut man doch nicht«-Blicke. Immer schön waren sie, diese Feiern. Auch, wenn ich mal nach Hause kam und schon im Treppenhaus abgefangen wurde, weil in irgendeiner Wohnung gerade wieder Sekt getrunken wurde und auf etwas angestoßen wurde.

Manchmal gab es dann schon herrlich lustig-skurrile Situationen. Frau Ch. war die älteste im Haus, jedoch noch recht gut beisammen. Schlank und rank, immer mit dunkelblauem oder beigem Mantel unterwegs mit energisch-lautem Ton, der wohl nicht nur auf Schwerhörigkeit beruhte. Seit 1953 in der Rosenhofstraße, gleich nach dem Bau des Hauses eingezogen. Wir feierten ihren 95. Geburtstag. Das übliche Spektakel. Alle in der kleinen Wohnung, Nachbarn und Familie. Und damit denn auch wirklich alle dabei sind, wird mit der großen Video-Vorführung extra noch gewartet. Bei Sekt und Schnittchen schauen wir uns dann ein vollkommen verrauschtes Video mit altersgerechter Lautstärke an, in dem Klaus von Dohnanyi der Jubilarin zum 80. Geburtstag gratuliert. Das war 15 Jahre zuvor. Frau Ch. kommentiert derweil. Sie war früher politisch aktiv. Links, natürlich für die Arbeiter. Lassen Sie mal Maria Furtwängler 95, schmal, grau, dünnhaarig werden. Dann haben Sie ein Bild im Frau Ch.

Direkt unter mir wohnten Herr und Frau S., beide etwas jünger als Frau Ch. Sehr ruhige Menschen, im Gegensatz zu Frau Ch. nicht unbedingt kontaktfreudig. Altersgemäß immer langsam unterwegs, oft zusammen. Wahrscheinlich hatte Herr S seine regelmäßigen Einkaufsgänge, ich sah ihn oft die Rosenhofstraße einbiegen. Stets trug er einen Stoff-Einkaufsbeutel und eine schwarze Elbsegler-Mütze mit lackglänzendem Schirm. Diese Mützen trug man früher auch im Hafen, in den 90ern sah man sie hingegen nur noch selten, zumindest mit dem glänzenden Schirm. Vorm Krieg war Herr S. zur See gefahren, später dann als Arbeiter beschäftigt gewesen. An seinem 90. Geburtstag wieder das gleiche Schauspiel, diesesmal Sonntags ab 11. Alle im kleinen Wohnzimmer, dazu noch die Familie. Schnittchen, Zigraretten, Sekt. Der jüngste Sohn war noch in der Wohnung aufgewachsen. Und der Herr S., anfangs noch so schüchtern-verlegen, als ich ihm ein Geschenk überreichte, hatte einen Zug, das glaubt man nicht. Ein Sektchen und noch eins und noch eins und so weiter. Richtig gesprächig wurde der im Lauf des Nachmittags, erzählte aus alten Zeiten, von seinen Mädchen, etc. Leider starb er ein oder zwei Jahre nach seinem 90. Wenn ich alte Bilder aus dem Hafen mit Arbeitern betrachte, muss ich oft an Herrn S. denken, der Schirm-Mütze mit dem glänzenden Schirm wegen.

AUSZUG

Aufgegeben habe ich die Wohnung in der Rosenhofstraße, als mir der schlechte Zustand mehr und mehr zuwider wurde und die Miete stieg. Zudem war der Mietvertrag moderat formuliert etwas ungünstig und der Vermieter mir nicht so angenehm. Zu der Zeit war das Haus im Wandel. Die Gemeinschaft löste sich langsam auf. Herr M., der Ex-Versicherungsvertreter, war ein Jahr zuvor ausgezogen, stark dement, er konnte nicht bleiben. Frau S.‘ Umzug war nach dem Tod ihres Mannes in Vorbereitung, Frau Ch. ging langsam auf die 100 zu. Ich zog also aus.

Im Schanzenviertel war ich danach noch sehr oft. Nicht mehr jedoch im Haus in der Rosenhofstraße. Ungefähr drei Jahre später habe ich am Klingelschild geschaut. Ich wollte wissen, wer dort noch wohnt. Nur noch den Namen von Herrn und Frau H. fand ich. Beide hatten jedoch immer wieder erzählt, ihr Sohn möchte diese Wohnung unbedingt behalten, und deshalb gäben sie sie schon nicht auf. So wird dieser Name wohl noch lange auf dem Klingelschild bleiben.

Das war’s gewesen mit der Hausgemeinschaft an der Rosenhofstraße. Und mit meiner Wohnung in diesem Viertel. Der Kiez passte damals. Ich war glücklich dort. Müsste ich nach Hamburg ziehen, würde ich nicht wieder ins Schanzenviertel ziehen. Der Kiez hat sich spürbar verändert. Ich auch, noch mehr. Ich glaub‘, ich würd’s jetzt in Winterhude oder Eppendorf versuchen.

Gesellschaft · Reisen

Reise nach Südamerika – 1924

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Südamerika-Fahrt – anno 1924. Heute möchte ich Ihnen einen besonderen Reisebericht vorstellen. Neben vielen alten Büchern befindet sich in meinem Fundus ein Sammelband der Zeitschrift Der Ansporn – Zeitschrift für Vorwärtsstrebende. Der Ansporn war ein monatlich erscheinendes Magazin, in dem wirtschaftliche und berufliche Fragestellungen kurzweilig mit praktischen Tipps thematisiert wurden. Dazu gab es noch Reportagen über große Unternehmen, Persönlichkeiten und sonstige Ereignisse. Im Grunde ähnliche Themen und Stories, wie man sie heute in den Karriere-Portalen und -Blogs findet, nur eben Jahrgang 1930. In einem Heft dieses Jahres ist ein Reisebericht enthalten. Mit einem für 1500 Passagiere gebauten Dampfer geht es von Hamburg über die Kanalhäfen, Spanien und Portugal über den Atlantik. Santos, Rio de Janeiro, Montevideo, bis Buenos Aires. Reisen in der guten alten Zeit – so mit tagelang nur Wasser sehen, Animations-Programm anno 1924, etc. Wie schnörkellos ist dagegen heute ein Flug nach Rio und wie vergleichsweise uncommod.

Den Reisebericht habe ich in ein eBook im epub-Format gewandelt. Sie finden ihn

hier

und können ihn bequem auf jedem eReader, Tablet oder Smartphone lesen.

BTW: Wussten Sie schon, welchen Ursprung der englische Begriff posh hat? Hier können Sie es nachlesen.