Berlin 1927

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Zeitreisen

Lassen Sie uns eine Zeitreise machen in die →deutsche Metropole im Jahr 1927. Fast 10 Jahre ist der erste Weltkrieg vorbei und es hat sich viel getan in Berlin. Es gibt sie hier und besonders hier, die goldenen 20er. Zumindest für alle, die es irgendwie geschafft haben, nicht zu den Kriegsverlierern zu gehören und im Berliner Tempo ganz gut mithalten können. Die Kaiserzeit mit ihren Militärparaden, Kasernen und →Exerzierfeldern hat die Hauptstadt hinter sich gelassen – und vermisst werden die alten Zeiten keineswegs. In Tempelhof gibt es schon seit 1923 einen Linienflugbetrieb und es gibt jetzt Radiosendungen vom zuvor eigens dafür gebauten →Funkturm. →Hier spricht Berlin.

Jeder, der es sich leisten kann, ist schon vor dem Weltkrieg aus den Stadtbezirken der Mitte in die westlichen gezogen. Es ist das Berlin dieser 20er Jahre, in das ich manchmal gern eine kurze Zeit eintauchen möchte. Das Berlin der →Brüder Sass und des →Karl Siebrecht. Das Berlin, in dem Kommissar →Kappe ermittelt. Mit Berliner Tempo, Doppeldeckerbussen und großflächiger Werbung für Chlorodont-Zahnpasta und für Schuhhaus Leiser. Das ungeteilte und nicht zerbombte Berlin, das sich zur Metropole entwickelt, mit deutlich mehr kultureller Vielfalt und Sexiness als jemals unter den Wilhelms und Friedrichs. Siemens, die AEG und Osram haben sich längst als führende Massenarbeitgeber etabliert und stehen technologisch an der Weltspitze. Siemens prägt einen neuen →Stadtteil nicht nur mit seinem Namen. Die Berliner S-Bahn hat gerade die →große Elektrisierung bekommen und man kann in den beige-roten Zügen stundenlang die Ringbahn-Strecke fahren, was verliebte Pärchen oder Studenten im Winter immer wieder gern nutzen.

Wer ohne Blessuren über Krieg und Inflation gekommen ist und mit welchen Geschäften auch immer ganz gut verdient, lässt sich ein Häuschen im Grunewald bauen. Wenn nicht vom berühmten Architekten, so doch vom einem Baumeister, der sich dort ein paar Stilelemente der neuen Sachlichkeit abschaut. Wer es nicht so gut machen kann, profitiert vielleicht gerade von den ehrgeizigen →Architektenprojekten der 20er oder wohnt wie eh und je in einer der zahlreichen Mietshäuser, bürgerlicher in Kreuzberg oder Schöneberg, ärmer im Wedding oder im heute gentrifizierten Altbaugürtel von Prenzlauer Berg bis Friedrichshain. In einem dieser Altbauten, die so charmant Mietskasernen genannt werden, mit Toilette im Treppenhaus oder im Hof.

Viel investiert wird nicht in diese Mietshäuser, sind sie doch in der Regel Anlageobjekte für die Haus- und Grundstückseigentümer, die oft längst woanders, manchmal aber auch selbst in einem der besseren von ihren Mietshäusern wohnen. Ehrliche Sparer haben es ohnehin nicht zu diesen Mietskasernen der Gründerzeit und Jahrhundertwende gebracht. Und mit ehrlicher – sagen wir besser bodenständiger – Arbeit wird man in den 20ern auch nicht wohlhabend, nach Inflation und Kriegszusammenbruch. Dafür muss man schon etwas spekulieren, zocken, in Aktien und Geldgeschäften machen. Manchem gelingt das oft und gut, und dann eben auch zuweilen nicht mehr gut. So wechseln sie immer mal wieder die Eigentümer, diese Mietshäuser in den viele Jahrzehnte später gentrifizierten Stadtteilen. Auch das Haus, in dem ich in 2013 – fast 90 Jahre später – lebe, hat viele Eigentümerwechsel hinter sich. Pleite, verkaufen. Dabei noch gut aussehen den Arbeitern gegenüber, zu denen man nicht gehört, den Sinnesfreuden der 20er aufgeschlossen, neu spekulieren, neues kaufen. Das funktioniert in diesen Jahren. Bis 1929. Was der schwarze Freitag und die Weltwirtschaftskrise auslöst und was danach kommt, wissen Sie selbst.

Natürlich, wer nicht (nur) in Immobilien macht, hat andere, kreative Ideen. So wie ein Herr Waldemar Keiser, Vorsitzender der Bezirksgruppe Wedding des Bundes der Berliner Haus- und Grundbesitzer. Er gibt ab 1925 Keiser’s Grundstück-Kontobuch heraus. Wie in einem Geschäftsbuch kann damit die Buchführung und, wie es im Vorwort heißt, die Übersicht über den Ertrag eines Mietshauses schnell erfolgen. Die eigentliche Idee Keisers ist wohl nicht, dafür eine Art Geschäftsbuch zu entwickeln, sondern dieses Buch in 10.000 Exemplaren kostenlos an die Mitglieder des Haus- und Grundbesitzer-Vereins zu verteilen. Dafür enthält das Buch jede Menge Werbeanzeigen von Berliner Gewerbetreibenden, auf die ein Hauseigentümer oder Eigenheimer immer mal wieder zurückgreifen muss. Wahrscheinlich ist das Buch komplett über diese Werbeanzeigen finanziert.

Nun, ein Exemplar von Keiser’s Grundstück-Kontobuch – warum der →Deppenapostroph hier verwendet wird und warum das →Fugen-s in Grundstücks-Kontobuch fehlt, erschließt sich mir nicht – ist irgendwie vor Jahren in meinen Fundus geraten. Ich hatte einiges an alten Geschäftsbüchern und -papieren gesammelt, der Gestaltung und Handschriften und manchmal auch der zeitgenössischen Anzeigen wegen. Vieles habe ich inzwischen leider weggeworfen, Keiser’s Kontobuch hingegen habe ich behalten.

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Das Buch hat ein Format von 20 mal 32 cm, also ein schlankes Hochformat, etwas größer als DIN A4. Es hat 38 Inhaltsseiten. Besonders dick ist es also nicht, aber die Idee ist ja auch, dass der Grundeigentümer jedes Jahr ein neues Buch mit neuen Werbeanzeigen verwendet. Zwischen den Inhaltsseiten ist immer (mindestens) ein rosa Blatt mit zum Teil großformatigen Werbeanzeigen eingefügt. Diese bedruckten rosa Zwischenblätter bestehen aus einem Löschpapier, so wie man es aus Schulheften kennt, zum Aufsaugen von noch nicht auf dem Papier getrockneter Tinte. Eine clevere Idee, kann man das Buch doch einfach zuklappen, sofern – wie damals üblich – mit Tinte und Stahlfeder oder mit einem der frühen Füllfederhalter geschrieben wird und die Tinte noch nicht trocken ist.

Ich finde diese alten Anzeigen nicht nur vom Inhalt, sondern auch mit Blick auf Typografie und Gestaltung interessant. Mit wenigen Ausnahmen ist das Buch komplett in Antiqua-Schrift gesetzt. Die allseitige Verwendung von Fraktur kommt erst viel später und ist in den 20er Jahren unter Geschäftemachern sowieso nur selten anzutreffen. Sie gilt, schwerer lesbar, als unmodern. Gedruckt ist das Buch ausschließlich im Hochdruck bzw. Bleisatz, was man sieht und fühlt, wenn man mit dem Finger über das Papier streicht. Allerlei zeitgenössische Schriften, Rahmen und Vignetten werden verwendet und im Beisatz kombiniert. →Aurora-Grotesk, die breite Bernhard Antiqua in mager und fett oder die fette Block. Eben das, was Buchdruckerei und Verlag Franz Dietzler in der Weddinger Gerichtsstraße 39 so an Schriften vorrätig hatte oder für dieses Buchprojekt angeschafft hatte.

Inspirierend, die Namen, die Orte, die Berufe und Gewerke. Für eine Zeitreise in das Berlin vor 86 Jahren. Bestimmungsgemäß wurde dieses Exemplar jedoch nicht verwendet. Eher so, wie man ein Werbe-Notizbuch eben verwendet. Man schreibt anfangs etwas hinein, das dem Zweck sehr wohl entspricht und notiert später irgendetwas darin, z.B. weil das Buch gerade passende Spalten oder einfach nur leere Seiten hat. Mietzahlungen sind einzig auf Seite 6 eingetragen, mit Kopierstift und darunter mit Tinte. Hier heißt es allerdings: ab 1.4.32. Aha, das Buch wurde also Jahre später verwendet. Auf den folgenden Seiten finden sich – ja, Wahlergebnisse von der →Reichspräsidentenwahl 1932. Handschriftlich notiert und wie es scheint, ungeordnet von Provinzen und Städten aus ganz Deutschland gesammelt. Die Spaltenköpfe mit D (für Düsterberg), H (für Hindenburg) sowie mit Hitler und Thälmann beschriftet. Alles scheint schnell aufgeschrieben worden zu sein, zu welchem Zweck auch immer… Spekulationen, die mir und Ihnen Stoff für eine weitere Zeitreise geben, wobei ich lieber nicht in diese Zeit reisen möchte.

Ich möchte Ihnen mein Exemplar von Keiser’s Grundstück-Kontobuch, Ausgabe 1927, nicht vorenthalten. Gescannt habe ich es, und ein PDF daraus erzeugt. Für Ihre Zeitweise ins Berlin von 1927. Einige Seiten fehlen. Vermutlich sind sie schon vor Jahrzehnten herausgerissen worden. Egal, so wie es ist, ist es Zeitreise genug.

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Anmerkung:

Das PDF ist ca. 20 MB groß und kann sehr gut auf dem iPad oder Tablet angesehen werden. Um ein eventuell vorhandenes Datenkontingent nicht zu belasten, empfiehlt es sich, das PDF bei WiFi-Verbindung zu laden und nicht per 3G oder LTE-Mobilfunk-Verbindung.

Zeitreise #1

WEST-BERLIN, ZIEMLICH GENAU VOR 40 JAHREN

… Eine sehr schöne Vorstellung war es. Vom Schiller-Theater huschen wir noch in die Paris-Bar rüber, einen Absacker trinken und auf unser neues Projekt anstoßen. Einige Gläser Champagner sind es dann doch in dieser schön gediegenen Atmosphäre, die wir beide immer wieder gern genießen. A. sieht heute wieder zauberhaft aus mit ihren blonden Haaren und in diesem schwarzen Kleid. Wir haben viel Spaß und sind mit jedem Glas etwas mehr beschwippst. Langsam siegt jedoch die Müdigkeit. Der Ober bringt mir die Rechnung. Ich runde großzügig auf und bitte ihn, uns ein Taxi zu rufen. Wenige Minuten kommt er erneut. Das Taxi sei da. Zügig helfe ich A. in den Mantel und reiche ihr den hellen Nerzschal.

Draußen schneit es leicht in der nasskalten Februarnacht. Ein schwarzer Mercedes – das neue Modell mit der Heckflosse – hält vor der Paris-Bar. Dieseltypisch nagelt der Motor. Ich gehe mit A. zum Auto, öffne ihr die hintere Tür und steige gegenüber ein. Mittlerweile ist es halb drei durch.

Der Taxichauffeur ist geschätzt Anfang 60, Typ Berliner Schnauze mit Herz. Er berlinert stark und trägt eine Schlägermütze. „Juten Morgn, wo sollet denn hinjehn?“ „Wir müssen zum Oberhaardter Weg.“ Routiniert stellt er den Taxameter auf Null. „Jerne, die Herrschaften.“ Er wendet auf der Kantstraße und biegt nach links in die Fasanenstraße ein. An der Kreuzung zum Kurfürstendamm halten wir etwas länger. Das mercedestypische Klicken des Blinkrelais wirkt entspannend. Ein schönes Geräusch. Weiter geht’s, den neonbeleuchteten Ku’damm hoch. Bunte Lichterpunkte in unscharfen Formationen sehe ich durch die nasse Scheibe der Autotür. A. beschäftigt sich mit mir, ich mich mit ihr. Wir knutschen verliebt. Wir sind es. In der westdeutschen Provinz wären wir jetzt Stadtgespräch. Hier ist es egal. In Halensee stoppt das Taxi noch einmal an einer Ampel, dann biegen wir in die Königsallee ein. Langsam geht es über die kurvige Straße. Wir haben noch etwas Zeit.

Zielsicher biegt der Taxichauffeur nach links in den Oberhaardter Weg und stoppt vor der Hausnummer, die ich genannt hatte. Er kassiert, schreibt kurz eine Quittung und wünscht uns in breitem Berlinerisch eine gute Nacht und einen schönen Tag. Ich geleite A. zur Haustür und schließe auf…