War das nun Osten oder Westen?
Miz Kitty hat das Stricken wiederentdeckt und so kam es, dass sie vorgestern in einem Handarbeitsgeschäft in der Karl-Kunger-Straße war. Im →Liljedal Werkhus, im Dreieck zwischen Kreuzberg, Neukölln und Alt-Treptow. Wir sprachen gestern Abend über diese Gegend und die →Karl-Kunger-Straße. Ich schaute mir die Straße auf dem iPad an und meinte, dass das früher Osten war. Nicht, weil ich damals schon mal dort gewesen wäre, sondern eher aus dem ungefähren Wissen des Grenzverlaufes. Kitty hingegen meinte, die Karl-Kunger-Straße sei geteilt gewesen und ein Teil hätte im Westen gelegen.
Nun, Fragen, die eigentlich keiner braucht, 25 Jahre post Deutsch-deutscher-Vereinigung. Trotzdem natürlich interessant. Sicher, den genauen Grenzverlauf findet man im Netz, nur eben nicht so einfach, wie man diese Straße auf jeder Karten-App oder bei Google-Maps findet. Jedenfalls konnten wir den genauen Grenzverlauf in der Nähe der Karl-Kunger-Straße nicht sofort im Netz finden. Ein alter Stadtplan aus den fünfziger Jahren, auf dem die Sektorengrenze und Ost- wie auch West-Teil der Hauptstadt zusammen abgebildet sind, half nicht weiter. Wir fanden die Karl-Kunger-Straße nicht. Ok, wenn das Netz nicht hilft, dann helfen die Fundstücke, die ich immer mal wieder aufgesammelt habe, z.B. ein alter Band von →Kauperts Straßenführer durch Berlin, in dem früher auch vermerkt war, ob eine Straße im Ost-Teil oder West-Teil Berlins war.
Also zum Regal und gleich beide Ausgaben von Kauperts Straßenführer herausgezogen, die in meinem Besitz sind. Und natürlich die Karl-Kunger-Straße gesucht. Die eine Ausgabe ist von 1961 und die andere von 1985. Im ersten Kauperts, dem von 1961, ist die Karl-Kunger-Straße nicht gelistet. Mmh, also in der Ausgabe von 1985 nachgeschaut. Sie enthält alle Straßen in Ost- und West-Berlin, jeweils mit dem Zusatz O oder W. Schnell habe ich sie hier gefunden, die die Karl-Kunger-Straße. Der Zusatz O verrät, dass sie früher im Osten lag. Weiter gibt es die Information, dass die Straße bis 1962 den Namen »Graetzstraße« hatte. Eine typische Straßenumbenennung im Ostteil der Hauptstadt, wie so oft nach einem →Widerstandskämpfer. Die Karl-Kunger-Straße ist also die Ex-Graetzstraße, deswegen konnten wir sie auf dem alten Stadtplan und im Kauperts von 1961 nicht finden. Die Graetzstraße freilich gibt es dort, im Ost-Sektor eingezeichnet.
Für genau solche Fragen, »War diese und jene Straße nun damals im Osten oder Westen?« oder auch »Welche Postleitzahl hatten die denn damals dort?« hebe ich manchmal diese alten Verzeichnisse auf. Nicht, dass ich sie regelrecht sammle, wohl aber werfe ich sie nicht weg und nehme sie mit, bevor sie jemand wegwirft. Beide Kauperts-Straßenführer sind mir auf diese Art »zugeflogen« Hier liegen sie im Regal, zusammen mit Reiseführern und Büchern, die nice-to-have, aber weniger wichtig sind und von denen ich mich nicht trennen mag.
Dem Kauperts von 1961 kommt noch eine besondere Bedeutung zu. Das war das Jahr des Mauerbaus. Und als ich dieses ca. DIN A6 große Handbuch gestern aus dem Regal zog und aufklappte, fand ich in der hinteren Umschlagtasche einige geviertelte, mit Schreibmaschine beschriebene Blätter eingesteckt. Da hat tatsächlich jemand das Straßenverzeichnis ergänzt und Straßenumbenennungen sowie neue Straßen auf gelbliche Blätter aufgeschrieben. Zum Teil sind sie aus sehr dünnem Papier, auf das man mit dazwischen gelegtem →Kohlepapier mit der Schreibmaschine Durchschläge, ähnlich Kopien, schreiben konnte (richtig angestellt, waren durchaus sechs Durchschläge möglich, bis die Schreibmaschinenschrift auf dem hintersten Blatt kaum noch lesbar war). Dieses dünne Papier kennen Sie bestimmt noch, wenn Sie in der Zeit aufgewachsen sind, als nicht jedes Büro einen Scanner oder Fotokopierer hatte.
Bitte, wer macht so etwas? Wer ergänzt ein als Buch gebundenes Straßenverzeichnis per Schreibmaschine, dazu noch mit Durchschlägen. Die Antwort ist sicher, dass dieses Exemplar des Straßenführers, das heute in meinem Besitz ist, in einer Polizeidienststelle verwendet wurde. Das verrät der Stempel auf dem Titelblatt. Polizisten haben damit also gearbeitet, Straßen gesucht, Auskunft erteilt, Menschen den Weg gezeigt, etc. Und vermutlich hat man in der Dienststelle mehrere dieser Kauperts-Handbücher gehabt. Da macht die Ergänzung mit Schreibmaschine und Kohlepapier durchaus Sinn, Anfang der sechziger Jahre, damals, als Stadtpläne noch nicht überall herumlagen und man diese verlässlichen Verzeichnisse brauchte, pflegte und ergänzte.
Der taschenbuchgroße, erst graue, später blaue, Kauperts-Straßenführer gehörte lange Zeit in jeder Verwaltungsdienststelle und in jedem größeren Büro mit zum Inventar und auch die Polizei hat anscheinend damit gearbeitet. Schnell konnte man die Postleitzahl einer Straße herausfinden, in welchem Stadtteil sie liegt und wo man sie im Stadtplan finden konnte. Infos, die wir heute ganz simpel via Google oder mit den Landkarten- und Stadtplan-Apps der Smartphones ermitteln können. Damals war man darauf angewiesen, dafür ein Verzeichnis zu haben. Genauso, wie man ein Telefonbuch brauchte und das vom Nachbarbezirk und vielleicht auch noch vom übernächsten Bezirk aufhob, um die Informationen im Haus zu haben.
Wer diese Verzeichnisse nicht hatte und auch keinen Zugang dazu (weil z.B. nicht im Büro arbeitend oder nicht so aufgestellt, sich so ein Verzeichnis zu kaufen), der hatte eben z.B. im konkreten Fall nicht den Zugang zum Wissen über die Berliner Straßen. Noch gut erinnere ich mich an die achtziger und auch frühen neunziger Jahre. Viele Handbücher, Verzeichnisse, Kataloge, Presseinformationen, etc. habe ich gesammelt, um möglichst viele Informationen, Adressen von Ansprechpartnern, etc. parat zu haben. Das ist mit iPhon, iPad und Internet-Flatrate endgültig Vergangenheit. Sehr froh bin ich darüber. Fast alle Infos lassen sich heute schnell auf den Bildschirm zaubern. Auch eben diese banalen Infos, ob irgendeine Straße im Osten oder im Westen lag, seit wann es sie gibt und wie sie früher hieß – auch wenn das im Einzelfall mit dem alten Straßenführer in Buchform noch schneller geht.
Kauperts Straßenführer gibt es selbstverständlich immer noch. Heute zeitgemäß als Website (Link s.o.), optimiert für Smartphones und Tablets. Ganz unkompliziert und gratis kann man hier über jeder Berliner Straße eine Menge mehr Informationen erfahren, als die alten Handbücher enthielten. Von allgemeinen Infos bis hin zu den für diese Straße geltenden Zuständigkeiten, sei es nun Jobcenter, Familiengericht, Polizeiabschnitt oder Grundbuchamt. Außerdem erfährt man hier interessantes über die Geschichte jeder Berliner Straße, seit wann es sie gibt, nach wem sie benannt wurde und manchmal einiges mehr. Sehr schön, dieses Wissen schnell und gratis zur Verfügung zu haben. Und freilich, für Menschen, die noch nicht im Internet angekommen sind, gibt es den Kauperts Straßenführer durch Berlin auch in 2014 noch als →gebundenes Buch. Eindrücke der Umschläge des Kauperts im Wandel der Zeit finden gibt es auf den →Internetseiten des Herausgebers. →Hier, leider nur als Flash-Dokument und nicht am iPad anzuschauen.
Nicht vorenthalten möchte ich Ihnen einige Fotos meiner beiden Ausgaben des Berliner Straßenführers. Außerdem habe ich einige der mit Schreibmaschine geschriebenen Einlagen fotografiert, die ich im älteren Handbuch fand. Unter anderem ist hier ein Merkblatt dabei, das Hinweise zur Einreise in den Sowjetsektor enthält, dazu Adressen, wo West-Berliner einen Passierschein beantragen können. Ein Zeitdokument, vermutlich aus irgendeiner Polizeidienststelle, vielleicht zusammengestellt zur Auskunft. Ich schätze, das Dokument stammt aus den Jahren 1964 oder 1965, denn die Grenze war nach dem Mauerbau erst einmal ziemlich lange dicht und das →Passierscheinabkommen wurde im Dezember 1963 vereinbart.
Auf der Suche nach der Karl-Kunger-Straße in Kauperts Straßenführer von 1961.
…und hier in der Ausgabe von 1985.