Rosenhofstraße,
im Arme-Leute-Viertel hinterm Schlachthof

Aus der Reihe: Wo ich schon mal wohnte

NACH HAMBURG

Anfang der 90er zog ich nach Hamburg. In Hannover habe ich studiert, die Liebe und erste längere Beziehung erlebt, und es war die erste Stadt überhaupt, in der ich lebte, aufgewachsen im Nirvana an einer Fernbundesstraße zwischen zwei Provinz-Städten. Das Studium war beendet, die Paarbeziehung mit gemeinsamer Wohnung ebenso. Einen festen Job hatte ich nicht, konnte jedoch ganz gut leben von meinen zwei bis drei freien Jobs und hatte zudem noch ein Aufbaustudium begonnen. Durch ein kurzes Intermezzo in Rom hatte ich erlebt, was wirklich eine ‚Stadt‘ ausmacht. Seitdem ziehen mich große Städte an.

Hannover, das war ein erweitertes Bielefeld, vielleicht sogar schlimmer. Dort, wo die Leute das sauberste Hochdeutsch sprechen und am spießigsten sind. Keine Perspektive für mich, hier zu leben, zumal es noch einige tiefgreifende Negativerfahrungen in dieser Stadt gab. Aufbruchsstimmung. Wohin? Andere zogen ihren ersten Jobs hinterher, ich zog nach Hamburg. 150 km von Hannover entfernt, 150 km weiterer gesunder Abstand zum Elternhaus. Das Tor zur Welt. Für mich. Da könnte ich doch erst mal meine Jobs in Hannover weiter machen, und ein- bis zweimal in der Woche hinfahren. Das Aufbaustudium könnte ich in Hamburg abschließen, dort wurde es auch angeboten. Nun, manches kam anders, aber immerhin ein guter Plan.

Von Hamburg bin ich heute nach vielen Jahren Berlin immer noch sehr angetan. Und wenn es nicht das zugegebenermaßen große Problem der Pendantfindung gegeben hätte, würde ich sicher heute noch meinen Lebensmittelpunkt dort haben. Darüber schrieb ich ja schon.

In Hamburg hatte ich genau zwei Kontakte. Eine Dozentin aus meinem Studium wohnte hier und von meiner Ex-Freundin eine Cousine. Mein Ziel war, unbedingt zentral zu wohnen, möglichst in einem Szene-Kiez, bloß nicht irgendwo außerhalb. Schanzenviertel, Eimsbüttel, Altona hatte ich mir in den Kopf gesetzt. Das erschienen mir die idealen Stadtteile. Studentisch, links, alternativ, kritisch, antibürgerlich, eben damals zu meinem Lebensgefühl passend. Relativ schnell fand ich eine kleine und bezahlbare Wohnung in der Rosenhofstraße, ziemlich mittendrin im Schanzenviertel.

SCHANZE

Das Schanzenviertel, umgangssprachlich auch einfach ‚die Schanze‘ genannt, ist der Bereich rechts und links der Straße Schulterblatt. Einerseits begrenzt durch Neuen Pferdemarkt und Altonaer Straße, in anderer Richtung durch Schanzenstraße und Stresemannstraße. Vielleicht gehört die Sternstraße jenseits der Schanzenstraße auch noch dazu. Dieses Viertel gehört verwaltungsmäßig zu St.Pauli, ein offiziellerer Name ist St.Pauli-Nord. Die Bezeichnung Schanzenviertel ist durch die Sternschanze begründet und existiert eigentlich erst seit den 80ern. Früher war dieses Quartier als Arme-Leute-Viertel hinterm Schlachthof bekannt. Gründerzeitliche Bebauung, im Lauf der Jahrzehnte heruntergekommen. Dazwischen ein paar Bombenlücken mit 50er- und 60er-Jahre-Häusern aus dem Wiederaufbauprogramm. Rote Hartbrandziegel-Fassaden.

Arme Leute wohnten hier immer noch, Anfang der 90er. Jetzt eben Studenten, Alternative, Migranten. Dazwischen sozial schlechter situierte ohne Selbstverwirklichungs-Anspruch. Dann noch Rentner, meist klassische Arbeiterschicht, seit Kriegsende hier im Kiez. Mittendrin im Viertel die Rote Flora mit Punks, Linken, Aktivisten und ab und zu Konzerten.

ROSENHOFSTRASSE

Ich zog also in die Rosenhofstraße, eine kurze Kniestraße, mit schönem Namen und literarisch bereits bearbeitet. Sie biegt von der Susannenstraße ab, ziemlich genau in der Mitte zwischen Schulterblatt und Bartelsstraße, und kommt kurz vor der Bahnunterführung auf’s Schulterblatt raus.

Wenn Sie von der Susannenstraße in die Rosenhofstraße einbiegen, gibt es auf der rechten Seite einige Häuser aus der Nachkriegszeit mit roter Backsteinfassade. In einem davon lag meine Wohnung. Gründerzeit-Altbau wäre mir lieber gewesen, vielleicht eines der Häuser gegenüber, mit hohen Räumen, studentischem Umfeld, großen Zimmern. Statt dessen eine Wohnung in einem Wiederaufbauprogramm-Haus. 1953 gebaut, eines der frühen, schlechteren also. Schlichtes, enges Treppenhaus, kleine Zimmer, niedrige Decken, dünne Wände. Den ersten Nachbarn, Generation 75-plus, lernte ich schon am Tag der Wohnungsbesichtigung kennen. Herr M., der Geist vom Alter etwas mitgenommen. In besseren Zeiten war er Versicherungs-Vertreter gewesen. Wenn die alle so sind? Aber ich wollte diese Wohnung. Es gab im Moment keine bezahlbare Alternative. Im Viertel würde ich schon Leute kennen lernen, und außerdem war die Wohnung sehr schön zentral. Auch andere Bekanntschaften würden schnell vorbei kommen. Ich mietete diese Wohnung.

Eingezogen, stellte ich fest, dass außer einer jungen Frau mit ihrer kleinen Tochter alle Nachbarn der Generation von Herrn M. angehörten, Tendenz älter. Frau R., Frau Ch., Herr und Frau H., Herr und Frau S. und eben Herr M. Sie alle wohnten schon dort, seitdem das Haus gebaut war oder waren kurz danach eingezogen, so in den Jahren bis 1955. Herr M. war von dieser Belegschaft übrigens als letzter eingezogen, 1959. Ich war damals gut Mitte 20 und ein technisch versierter, schüchterner Nerd. Smalltalk und Nachbarn anzusprechen habe ich erst viel später gelernt. Was sollte ich mich mit dieser Rentner-Riege auch unterhalten? Ich war jung. Waren das nicht alles Erwachsene mit Wertvorstellungen von vorgestern, in denen ich junger Hüpfer eh nichts galt? Alt und unlustig und vom Leben gezeichnet? Noch schlimmer wie die 50-plus und 60-plus Nachbarn aus den zwei Hannoverschen Häusern, in denen ich mich nie richtig wohl gefühlt hatte. Schöne Aussichten.

HAUSGEMEINSCHAFT

Nun, der Kontakt kam zu mir. Frau R. aus dem Erdgeschoss lauerte mir auf, um mir zu sagen, dass die Frau K. hier die Treppe macht. Kostet 10 Mark im Monat, und da beteiligen sich alle. Aha. Etwas überrumpelt, stimme ich schüchtern-willig zu, und sie gibt mir die Kontonummer von Frau K. Am besten immer 30 Mark für’s Vierteljahr im voraus überweisen. Das machen alle so.

Ok, Treppenfrau, warum nicht. Das kannte ich aus Hannover nicht. Dort wurde die Treppe abwechselnd selbst gewienert, was dann mit Unterschriftenkärtchen oder einem anderem Kontrollsystem gesteuert wurde. Natürlich nicht, ohne anderen Bewohnern die eigenen Vorstellungen der Treppenreinigung geringschätzig kund zu tun. Gut, dieses gab es in Hamburg also nicht (in Berlin übrigens auch nicht). Frau K., die Treppenfrau, war schon kurz vor 70 und verdiente sich wohl etwas hinzu. Zudem hatte Sie Asthma und rückte ab und zu Samstag nachmittags heftig schnappatmend mit Wischeimer und Feudel an.

HAUSPARTIES

In den ersten Monaten wurde ich dann von den alten Herrschaften quasi in die Hausgemeinschaft adoptiert. Da sich alle ja schon seit Jahrzehnten kannten, wurde regelmäßig und ausgiebig gefeiert, meist Geburtstage, manchmal auch anderes. Genauso regelmäßig wurde der »junge Mann von oben« auch dazu eingeladen.

Das Szenario war immer ähnlich. Alle versammelten sich im kleinen Wohnzimmer der Gastgeberwohnung. Schnittchen, Zigaretten, und nicht gespart an Alkohol. Zwar krank und gebrechlich, aber lustig und lebensfroh, diese Rentner-Crew. So ganz anders als ich das aus meiner Familie und von den weit jüngeren Nachbarn aus den Hannoverschen Häusern kannte. Ganz ohne diese enge »Was denken die Nachbarn«-Attitüde und ohne geringschätzige »das tut man doch nicht«-Blicke. Immer schön waren sie, diese Feiern. Auch, wenn ich mal nach Hause kam und schon im Treppenhaus abgefangen wurde, weil in irgendeiner Wohnung gerade wieder Sekt getrunken wurde und auf etwas angestoßen wurde.

Manchmal gab es dann schon herrlich lustig-skurrile Situationen. Frau Ch. war die älteste im Haus, jedoch noch recht gut beisammen. Schlank und rank, immer mit dunkelblauem oder beigem Mantel unterwegs mit energisch-lautem Ton, der wohl nicht nur auf Schwerhörigkeit beruhte. Seit 1953 in der Rosenhofstraße, gleich nach dem Bau des Hauses eingezogen. Wir feierten ihren 95. Geburtstag. Das übliche Spektakel. Alle in der kleinen Wohnung, Nachbarn und Familie. Und damit denn auch wirklich alle dabei sind, wird mit der großen Video-Vorführung extra noch gewartet. Bei Sekt und Schnittchen schauen wir uns dann ein vollkommen verrauschtes Video mit altersgerechter Lautstärke an, in dem Klaus von Dohnanyi der Jubilarin zum 80. Geburtstag gratuliert. Das war 15 Jahre zuvor. Frau Ch. kommentiert derweil. Sie war früher politisch aktiv. Links, natürlich für die Arbeiter. Lassen Sie mal Maria Furtwängler 95, schmal, grau, dünnhaarig werden. Dann haben Sie ein Bild im Frau Ch.

Direkt unter mir wohnten Herr und Frau S., beide etwas jünger als Frau Ch. Sehr ruhige Menschen, im Gegensatz zu Frau Ch. nicht unbedingt kontaktfreudig. Altersgemäß immer langsam unterwegs, oft zusammen. Wahrscheinlich hatte Herr S seine regelmäßigen Einkaufsgänge, ich sah ihn oft die Rosenhofstraße einbiegen. Stets trug er einen Stoff-Einkaufsbeutel und eine schwarze Elbsegler-Mütze mit lackglänzendem Schirm. Diese Mützen trug man früher auch im Hafen, in den 90ern sah man sie hingegen nur noch selten, zumindest mit dem glänzenden Schirm. Vorm Krieg war Herr S. zur See gefahren, später dann als Arbeiter beschäftigt gewesen. An seinem 90. Geburtstag wieder das gleiche Schauspiel, diesesmal Sonntags ab 11. Alle im kleinen Wohnzimmer, dazu noch die Familie. Schnittchen, Zigraretten, Sekt. Der jüngste Sohn war noch in der Wohnung aufgewachsen. Und der Herr S., anfangs noch so schüchtern-verlegen, als ich ihm ein Geschenk überreichte, hatte einen Zug, das glaubt man nicht. Ein Sektchen und noch eins und noch eins und so weiter. Richtig gesprächig wurde der im Lauf des Nachmittags, erzählte aus alten Zeiten, von seinen Mädchen, etc. Leider starb er ein oder zwei Jahre nach seinem 90. Wenn ich alte Bilder aus dem Hafen mit Arbeitern betrachte, muss ich oft an Herrn S. denken, der Schirm-Mütze mit dem glänzenden Schirm wegen.

AUSZUG

Aufgegeben habe ich die Wohnung in der Rosenhofstraße, als mir der schlechte Zustand mehr und mehr zuwider wurde und die Miete stieg. Zudem war der Mietvertrag moderat formuliert etwas ungünstig und der Vermieter mir nicht so angenehm. Zu der Zeit war das Haus im Wandel. Die Gemeinschaft löste sich langsam auf. Herr M., der Ex-Versicherungsvertreter, war ein Jahr zuvor ausgezogen, stark dement, er konnte nicht bleiben. Frau S.‘ Umzug war nach dem Tod ihres Mannes in Vorbereitung, Frau Ch. ging langsam auf die 100 zu. Ich zog also aus.

Im Schanzenviertel war ich danach noch sehr oft. Nicht mehr jedoch im Haus in der Rosenhofstraße. Ungefähr drei Jahre später habe ich am Klingelschild geschaut. Ich wollte wissen, wer dort noch wohnt. Nur noch den Namen von Herrn und Frau H. fand ich. Beide hatten jedoch immer wieder erzählt, ihr Sohn möchte diese Wohnung unbedingt behalten, und deshalb gäben sie sie schon nicht auf. So wird dieser Name wohl noch lange auf dem Klingelschild bleiben.

Das war’s gewesen mit der Hausgemeinschaft an der Rosenhofstraße. Und mit meiner Wohnung in diesem Viertel. Der Kiez passte damals. Ich war glücklich dort. Müsste ich nach Hamburg ziehen, würde ich nicht wieder ins Schanzenviertel ziehen. Der Kiez hat sich spürbar verändert. Ich auch, noch mehr. Ich glaub‘, ich würd’s jetzt in Winterhude oder Eppendorf versuchen.

Rosenhofstraße, im Arme-Leute-Viertel hinterm Schlachthof

Aus der Reihe: Wo ich schon mal wohnte

NACH HAMBURG

Anfang der 90er zog ich nach Hamburg. In Hannover habe ich studiert, die Liebe und erste längere Beziehung erlebt, und es war die erste Stadt überhaupt, in der ich lebte, aufgewachsen im Nirvana an einer Fernbundesstraße zwischen zwei Provinz-Städten. Das Studium war beendet, die Paarbeziehung mit gemeinsamer Wohnung ebenso. Einen festen Job hatte ich nicht, konnte jedoch ganz gut leben von meinen zwei bis drei freien Jobs und hatte zudem noch ein Aufbaustudium begonnen. Durch ein kurzes Intermezzo in Rom hatte ich erlebt, was wirklich eine ‚Stadt‘ ausmacht. Seitdem ziehen mich große Städte an.

Hannover, das war ein erweitertes Bielefeld, vielleicht sogar schlimmer. Dort, wo die Leute das sauberste Hochdeutsch sprechen und am spießigsten sind. Keine Perspektive für mich, hier zu leben, zumal es noch einige tiefgreifende Negativerfahrungen in dieser Stadt gab. Aufbruchsstimmung. Wohin? Andere zogen ihren ersten Jobs hinterher, ich zog nach Hamburg. 150 km von Hannover entfernt, 150 km weiterer gesunder Abstand zum Elternhaus. Das Tor zur Welt. Für mich. Da könnte ich doch erst mal meine Jobs in Hannover weiter machen, und ein- bis zweimal in der Woche hinfahren. Das Aufbaustudium könnte ich in Hamburg abschließen, dort wurde es auch angeboten. Nun, manches kam anders, aber immerhin ein guter Plan.

Von Hamburg bin ich heute nach vielen Jahren Berlin immer noch sehr angetan. Und wenn es nicht das zugegebenermaßen große Problem der Pendantfindung gegeben hätte, würde ich sicher heute noch meinen Lebensmittelpunkt dort haben. Darüber schrieb ich ja schon.

In Hamburg hatte ich genau zwei Kontakte. Eine Dozentin aus meinem Studium wohnte hier und von meiner Ex-Freundin eine Cousine. Mein Ziel war, unbedingt zentral zu wohnen, möglichst in einem Szene-Kiez, bloß nicht irgendwo außerhalb. Schanzenviertel, Eimsbüttel, Altona hatte ich mir in den Kopf gesetzt. Das erschienen mir die idealen Stadtteile. Studentisch, links, alternativ, kritisch, antibürgerlich, eben damals zu meinem Lebensgefühl passend. Relativ schnell fand ich eine kleine und bezahlbare Wohnung in der Rosenhofstraße, ziemlich mittendrin im Schanzenviertel.

SCHANZE

Das Schanzenviertel, umgangssprachlich auch einfach ‚die Schanze‘ genannt, ist der Bereich rechts und links der Straße Schulterblatt. Einerseits begrenzt durch Neuen Pferdemarkt und Altonaer Straße, in anderer Richtung durch Schanzenstraße und Stresemannstraße. Vielleicht gehört die Sternstraße jenseits der Schanzenstraße auch noch dazu. Dieses Viertel gehört verwaltungsmäßig zu St.Pauli, ein offiziellerer Name ist St.Pauli-Nord. Die Bezeichnung Schanzenviertel ist durch die Sternschanze begründet und existiert eigentlich erst seit den 80ern. Früher war dieses Quartier als Arme-Leute-Viertel hinterm Schlachthof bekannt. Gründerzeitliche Bebauung, im Lauf der Jahrzehnte heruntergekommen. Dazwischen ein paar Bombenlücken mit 50er- und 60er-Jahre-Häusern aus dem Wiederaufbauprogramm. Rote Hartbrandziegel-Fassaden.

Arme Leute wohnten hier immer noch, Anfang der 90er. Jetzt eben Studenten, Alternative, Migranten. Dazwischen sozial schlechter situierte ohne Selbstverwirklichungs-Anspruch. Dann noch Rentner, meist klassische Arbeiterschicht, seit Kriegsende hier im Kiez. Mittendrin im Viertel die Rote Flora mit Punks, Linken, Aktivisten und ab und zu Konzerten.

ROSENHOFSTRASSE

Ich zog also in die Rosenhofstraße, eine kurze Kniestraße, mit schönem Namen und literarisch bereits bearbeitet. Sie biegt von der Susannenstraße ab, ziemlich genau in der Mitte zwischen Schulterblatt und Bartelsstraße, und kommt kurz vor der Bahnunterführung auf’s Schulterblatt raus.

Wenn Sie von der Susannenstraße in die Rosenhofstraße einbiegen, gibt es auf der rechten Seite einige Häuser aus der Nachkriegszeit mit roter Backsteinfassade. In einem davon lag meine Wohnung. Gründerzeit-Altbau wäre mir lieber gewesen, vielleicht eines der Häuser gegenüber, mit hohen Räumen, studentischem Umfeld, großen Zimmern. Statt dessen eine Wohnung in einem Wiederaufbauprogramm-Haus. 1953 gebaut, eines der frühen, schlechteren also. Schlichtes, enges Treppenhaus, kleine Zimmer, niedrige Decken, dünne Wände. Den ersten Nachbarn, Generation 75-plus, lernte ich schon am Tag der Wohnungsbesichtigung kennen. Herr M., der Geist vom Alter etwas mitgenommen. In besseren Zeiten war er Versicherungs-Vertreter gewesen. Wenn die alle so sind? Aber ich wollte diese Wohnung. Es gab im Moment keine bezahlbare Alternative. Im Viertel würde ich schon Leute kennen lernen, und außerdem war die Wohnung sehr schön zentral. Auch andere Bekanntschaften würden schnell vorbei kommen. Ich mietete diese Wohnung.

Eingezogen, stellte ich fest, dass außer einer jungen Frau mit ihrer kleinen Tochter alle Nachbarn der Generation von Herrn M. angehörten, Tendenz älter. Frau R., Frau Ch., Herr und Frau H., Herr und Frau S. und eben Herr M. Sie alle wohnten schon dort, seitdem das Haus gebaut war oder waren kurz danach eingezogen, so in den Jahren bis 1955. Herr M. war von dieser Belegschaft übrigens als letzter eingezogen, 1959. Ich war damals gut Mitte 20 und ein technisch versierter, schüchterner Nerd. Smalltalk und Nachbarn anzusprechen habe ich erst viel später gelernt. Was sollte ich mich mit dieser Rentner-Riege auch unterhalten? Ich war jung. Waren das nicht alles Erwachsene mit Wertvorstellungen von vorgestern, in denen ich junger Hüpfer eh nichts galt? Alt und unlustig und vom Leben gezeichnet? Noch schlimmer wie die 50-plus und 60-plus Nachbarn aus den zwei Hannoverschen Häusern, in denen ich mich nie richtig wohl gefühlt hatte. Schöne Aussichten.

HAUSGEMEINSCHAFT

Nun, der Kontakt kam zu mir. Frau R. aus dem Erdgeschoss lauerte mir auf, um mir zu sagen, dass die Frau K. hier die Treppe macht. Kostet 10 Mark im Monat, und da beteiligen sich alle. Aha. Etwas überrumpelt, stimme ich schüchtern-willig zu, und sie gibt mir die Kontonummer von Frau K. Am besten immer 30 Mark für’s Vierteljahr im voraus überweisen. Das machen alle so.

Ok, Treppenfrau, warum nicht. Das kannte ich aus Hannover nicht. Dort wurde die Treppe abwechselnd selbst gewienert, was dann mit Unterschriftenkärtchen oder einem anderem Kontrollsystem gesteuert wurde. Natürlich nicht, ohne anderen Bewohnern die eigenen Vorstellungen der Treppenreinigung geringschätzig kund zu tun. Gut, dieses gab es in Hamburg also nicht (in Berlin übrigens auch nicht). Frau K., die Treppenfrau, war schon kurz vor 70 und verdiente sich wohl etwas hinzu. Zudem hatte Sie Asthma und rückte ab und zu Samstag nachmittags heftig schnappatmend mit Wischeimer und Feudel an.

HAUSPARTIES

In den ersten Monaten wurde ich dann von den alten Herrschaften quasi in die Hausgemeinschaft adoptiert. Da sich alle ja schon seit Jahrzehnten kannten, wurde regelmäßig und ausgiebig gefeiert, meist Geburtstage, manchmal auch anderes. Genauso regelmäßig wurde der »junge Mann von oben« auch dazu eingeladen.

Das Szenario war immer ähnlich. Alle versammelten sich im kleinen Wohnzimmer der Gastgeberwohnung. Schnittchen, Zigaretten, und nicht gespart an Alkohol. Zwar krank und gebrechlich, aber lustig und lebensfroh, diese Rentner-Crew. So ganz anders als ich das aus meiner Familie und von den weit jüngeren Nachbarn aus den Hannoverschen Häusern kannte. Ganz ohne diese enge »Was denken die Nachbarn«-Attitüde und ohne geringschätzige »das tut man doch nicht«-Blicke. Immer schön waren sie, diese Feiern. Auch, wenn ich mal nach Hause kam und schon im Treppenhaus abgefangen wurde, weil in irgendeiner Wohnung gerade wieder Sekt getrunken wurde und auf etwas angestoßen wurde.

Manchmal gab es dann schon herrlich lustig-skurrile Situationen. Frau Ch. war die älteste im Haus, jedoch noch recht gut beisammen. Schlank und rank, immer mit dunkelblauem oder beigem Mantel unterwegs mit energisch-lautem Ton, der wohl nicht nur auf Schwerhörigkeit beruhte. Seit 1953 in der Rosenhofstraße, gleich nach dem Bau des Hauses eingezogen. Wir feierten ihren 95. Geburtstag. Das übliche Spektakel. Alle in der kleinen Wohnung, Nachbarn und Familie. Und damit denn auch wirklich alle dabei sind, wird mit der großen Video-Vorführung extra noch gewartet. Bei Sekt und Schnittchen schauen wir uns dann ein vollkommen verrauschtes Video mit altersgerechter Lautstärke an, in dem Klaus von Dohnanyi der Jubilarin zum 80. Geburtstag gratuliert. Das war 15 Jahre zuvor. Frau Ch. kommentiert derweil. Sie war früher politisch aktiv. Links, natürlich für die Arbeiter. Lassen Sie mal Maria Furtwängler 95, schmal, grau, dünnhaarig werden. Dann haben Sie ein Bild im Frau Ch.

Direkt unter mir wohnten Herr und Frau S., beide etwas jünger als Frau Ch. Sehr ruhige Menschen, im Gegensatz zu Frau Ch. nicht unbedingt kontaktfreudig. Altersgemäß immer langsam unterwegs, oft zusammen. Wahrscheinlich hatte Herr S seine regelmäßigen Einkaufsgänge, ich sah ihn oft die Rosenhofstraße einbiegen. Stets trug er einen Stoff-Einkaufsbeutel und eine schwarze Elbsegler-Mütze mit lackglänzendem Schirm. Diese Mützen trug man früher auch im Hafen, in den 90ern sah man sie hingegen nur noch selten, zumindest mit dem glänzenden Schirm. Vorm Krieg war Herr S. zur See gefahren, später dann als Arbeiter beschäftigt gewesen. An seinem 90. Geburtstag wieder das gleiche Schauspiel, diesesmal Sonntags ab 11. Alle im kleinen Wohnzimmer, dazu noch die Familie. Schnittchen, Zigraretten, Sekt. Der jüngste Sohn war noch in der Wohnung aufgewachsen. Und der Herr S., anfangs noch so schüchtern-verlegen, als ich ihm ein Geschenk überreichte, hatte einen Zug, das glaubt man nicht. Ein Sektchen und noch eins und noch eins und so weiter. Richtig gesprächig wurde der im Lauf des Nachmittags, erzählte aus alten Zeiten, von seinen Mädchen, etc. Leider starb er ein oder zwei Jahre nach seinem 90. Wenn ich alte Bilder aus dem Hafen mit Arbeitern betrachte, muss ich oft an Herrn S. denken, der Schirm-Mütze mit dem glänzenden Schirm wegen.

AUSZUG

Aufgegeben habe ich die Wohnung in der Rosenhofstraße, als mir der schlechte Zustand mehr und mehr zuwider wurde und die Miete stieg. Zudem war der Mietvertrag moderat formuliert etwas ungünstig und der Vermieter mir nicht so angenehm. Zu der Zeit war das Haus im Wandel. Die Gemeinschaft löste sich langsam auf. Herr M., der Ex-Versicherungsvertreter, war ein Jahr zuvor ausgezogen, stark dement, er konnte nicht bleiben. Frau S.‘ Umzug war nach dem Tod ihres Mannes in Vorbereitung, Frau Ch. ging langsam auf die 100 zu. Ich zog also aus.

Im Schanzenviertel war ich danach noch sehr oft. Nicht mehr jedoch im Haus in der Rosenhofstraße. Ungefähr drei Jahre später habe ich am Klingelschild geschaut. Ich wollte wissen, wer dort noch wohnt. Nur noch den Namen von Herrn und Frau H. fand ich. Beide hatten jedoch immer wieder erzählt, ihr Sohn möchte diese Wohnung unbedingt behalten, und deshalb gäben sie sie schon nicht auf. So wird dieser Name wohl noch lange auf dem Klingelschild bleiben.

Das war’s gewesen mit der Hausgemeinschaft an der Rosenhofstraße. Und mit meiner Wohnung in diesem Viertel. Der Kiez passte damals. Ich war glücklich dort. Müsste ich nach Hamburg ziehen, würde ich nicht wieder ins Schanzenviertel ziehen. Der Kiez hat sich spürbar verändert. Ich auch, noch mehr. Ich glaub‘, ich würd’s jetzt in Winterhude oder Eppendorf versuchen.