Friedhofsschwimmen

in der Lübecker Bucht.

Schwimmen über einem Kleinstadt-Friedhof, knappe 20 Meter unter Wasser. Deutsche Geschichte, sie holt einen ein, wtf. Ganz euphorisch hatte ich am letzten Wochenende eine meiner Lieblingsbadestellen in der Nähe von Groß Schwansee, unweit der Lübecker Bucht vorgestellt. Was ich bis dahin nicht so genau wusste: Gar nicht weit von diesen Ort ereignete sich eine der größten und traurigsten Schiffskatastrophen des zweiten Weltkriegs, die Versenkung des mit KZ-Häftlingen vollbesetzten Ex-Luxusdampfers →Cap Arcona durch britisches Bombardement am 3. Mai 1945.

Nimmt man die ebenfalls in der Lübecker Bucht versenkten kleineren Schiffe →Thielbek und →Athen hinzu, so sind ca. 7000 Menschen auf diesen Schiffen gewesen. 6400 von ihnen kamen um. Etwa die Hälfte der Toten wurde in den Sommermonaten 1945 und auch noch danach an Land gespült. Sie sind in Massengräbern beigesetzt. So auch in der Nähe der Badestelle, die mir so gefällt – oder gefiel? 407 Leichen trieb es in Richtung Groß Schwansee. Sie sind hier in einem Massengrab beigesetzt. Es gibt eine →Gedenkstätte.

Von ca. 3000 Opfern dieser Katastrophe fehlt jedoch jede Spur. Sie haben ihr Grab in der Ostsee gefunden. 3000 Menschen, eine Kleinstadt. Und viele davon vermutlich in knapp 20 Meter Tiefe auf dem Meeresgrund rund um die bekannte Stelle, an der die Cap Arcona noch bis 1950 aus dem Wasser ragte. Versenkt wurde das 25 m breite Schiff nämlich nicht wirklich. Es lag auf der Seite auf dem Grund und ein Teil schaute aus dem Wasser. 1950 wurde das Wrack dann abgebaut und man fand zahlreiche Leichen darin. Was auch immer mit denen passiert ist, die Recherche gibt wenig her. Ich denke, 1950 war man froh, dass Wrack dort los zu sein, der Rest liegt auf dem Meeresgrund. Tauchen wird wohl an dieser Position nicht gerne gesehen bzw. erfordert Mut. Es gibt zumindest Andeutungen dazu im Internet.

Die westdeutschen Urlaubsorte der Lübecker Bucht, Sierksdorf, Scharbeutz und Timmendorfer Strand, präsentieren sich heute gerne als Wohlfühl-, Entspannungs- und Familienparadies und scheinen alle Konfrontationsflächen, die Touristen mit der Schiffskatastrophe haben könnten, strikt zu vermeiden bzw. auf singuläre Orte zu fokussieren. Freilich, der Badegast kann ja zum →Ehrenfriedhof Cap Arkona nach Neustadt fahren, wenn er politisch interessiert ist. Dass er als guter Schwimmer locker das Zentrum des Ostseefriedhofs erreicht, sagt man ihm besser nicht. Fröhliches Friedhofs-Schwimmen.

Etwa 15 km sind es vom Strand von Groß Schwansee bis zur Position der Schiffskatastrophe. 15 km sind keine große Entfernung – und 3000 Menschen sind eine Kleinstadt. Hier, irgendwo auf dem Meeresgrund, zumindest ihre Reste. Irgendwie gruselt es mich, im Sommer dort wieder zu schwimmen. Und noch vielmehr gruselt es mich, wenn ich die Selbstdarstellungen der schleswig-holsteinischen Ostseeorte mit ihren bunten Familienparadies-Bildern sehe. In Nebensätzen heißt es in Internetquellen, dort seien bis in die sechziger oder oder achtziger Jahre noch vereinzelt menschliche Knochenteile an den Strand gespült worden. Das mag vorbei sein, da Natur und Meeresgetier ihren Dienst zuverlässig tun. Trotzdem sehr merkwürdig, Massenbaden neben dem Wasserfriedhof. Kann man tun – muss ich nicht. Ich zelte auch nicht auf einem Friedhof.

Im letzen Sommer habe ich am Strand von Groß Schwansee am Sonntagnachmittag schön und erholsam geschwommen. Links die Lübecker Bucht, rechts der Blick auf die offene Ostsee. Warmes, seichtes Wasser, Fähren kreuzen. Meer-Schwimmen. Anders und eindrucksvoller als Wannsee oder Havel. Weit sind wir dafür gefahren. Ich wußte, dass in der Ostsee so einiges an Müll liegt. Kriegsgerärt, Munition, Giftgas, Hinterlassenschaften von Seeschiffen und Fähren. Dinge, die wir heute Sondermüll nennen. So what, egal, dachte ich mir, das richten Natur und Meerestiere schon, und es beeinträchtigt weder Erholung noch Ostseefreuden. Natürlich, die Schiffskatastropen des Weltkrieges kannte ich. Gustloff, Goya, Cap Arcona, tausende Tote, irgendwo in der Ostsee. Dass die Cap-Arcona-Katastrophe sich jedoch direkt in der Lübecker Bucht ereignete, so nah, dass man locker hinschwimmen kann, das war mir nicht präsent. Jetzt weiß ich es, durch Zufall, durch einen Wegweiser, der neugierig machte.
Und ich finde, die Urlauber auf der schleswig-holsteinischen Seite der Lübecker Bucht sollten es auch wissen. Sie sind ganz nah dran, sie können hinschwimmen zum Ort der Schiffskatastrophe.

Geschichte, sie holt einen ein. Nicht nur die individuelle, auch die kollektive Geschichte. Jetzt hat sie mich eingeholt. Mir ist die Lust am Schwimmen hier in der Nähe der Lübecker Bucht etwas vergangen. Ich muss mir für den Sommer eine andere Badestelle suchen. Nur, wo? An der Nordsee, viel zu weit weg? Ratlos bin ich gerade.

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